Die Kanzlerin - Roman
wo sich die deutsche Kanzlerin befindet?«
»Bei mir steht Bundesanwalt Simon Gollwitz, der hier vor Ort, auf dem Säntis, die Ermittlungen leitet. Herr Gollwitz, stimmt es, dass sich die deutsche Kanzlerin nicht unter den Toten befindet?«
»Das ist so, und zur Stunde weiss niemand, wo sich die deutsche Kanzlerin aufhält.«
»Es gibt Augenzeugen, die gesehen haben, wie die Kanzlerin in der Talstation Schwägalp heute Morgen in die Seilbahn eingestiegen ist, zusammen mit Kabinettsmitgliedern und Deutsche-Bank-Chef Glanzmann. Wie lässt sich das Verschwinden der Kanzlerin erklären?«
»Der deutsche Bundesnachrichtendienst, das deutsche Bundeskriminalamt und die schweizerischen Sicherheitsbehördenarbeiten eng zusammen. Erkenntnisse, die Ihre Frage betreffen, gibt es bislang keine.«
»Was befürchten Sie?«
»Da es kein Lebenszeichen von der Kanzlerin gibt, müssen wir, vor dem Hintergrund des Terroranschlags, mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Auf der Säntisstrecke gibt es den sogenannten Mast 2, bei dem Passagiere die Gondel nach Halt auf Verlangen verlassen können. Könnte es sein, dass die Kanzlerin dort ausgestiegen ist?«
»Das wird von uns derzeit überprüft.«
»Haben Sie Hinweise darauf, dass sie die Gondel möglicherweise nicht freiwillig verlassen hat?«
»Dazu kann ich im Moment nichts sagen.«
»Gibt es Hinweise auf die Attentäter?«
»Zu laufenden Ermittlungen kann ich mich nicht äussern.«
»Schliessen Sie bei diesem Attentat einen islamistischen Hintergrund aus?«
»Wir schliessen nichts aus. Wir ermitteln in alle Richtungen.«
»Kanzlerin von al-Kaida entführt? Unbekannte Täter haben heute Morgen im schweizerischen Kanton Appenzell Ausserrhoden auf die Insassen der Säntisseilbahn einen Giftgasanschlag mit Kohlenmonoxid verübt. Es gab keine Überlebenden. Unter den 25 Toten konnten bis jetzt die Minister Kirk Ritz, Lothar Engel, Valentin Hendricks und Merrit Amelie Kranz sowie Deutsche-Bank-Chef Glanzmann identifiziert werden. Laut Informationen von Schweizer Radio DRS befindet sich die Kanzlerin nicht unter den Toten, obwohl sie laut Augenzeugen auf der Schwägalp in die Säntisbahn eingestiegen ist. Eine offizielle Zwischenstation auf der Fahrt zum 2500 Meter hohen Berg gibt es nicht. Über die Hintergründe des Terroranschlags ist bis jetzt noch nichts bekannt. Die SchweizerBundesanwaltschaft schliesst allerdings nicht aus, dass die Tat von al-Kaida verübt wurde.«
RTL berichtete wie viele andere europäische Fernsehstationen direkt vom Säntis und von der Schwägalp, und Anton Kalkstein, der Wirt des Berghotels, war stinksauer. Er war nicht mehr Herr im eigenen Haus, sondern musste sich von Kripoleuten sagen lassen, wen er bedienen durfte und wen nicht. Er musste sich einen Ausweis um den Hals hängen, als ob ihn sonst keiner mehr kennen würde. Angeblich waren Dutzende Menschen in der Gondel gestorben und die Kanzlerin verschwunden. »Jetzt können wir den Laden dichtmachen«, sagte er zu seiner Frau. »Das dauert wochenlang. Vielleicht fangen sie ja diese Terroristen, unsere tüchtigen Polizisten, aber wie wir überleben sollen, das kann uns keiner von denen sagen. Ein wochenlanger Verdienstausfall bricht uns das Genick.« Dann telefonierte er mit Samuel Tanner, dem Herisauer Gemeindepräsidenten, aber der wusste von gar nichts.
»Alles Gute«, sagte ein Gast zu Anton Kalkstein, der früher abreiste als geplant. Aber das konnte er ihm nicht verargen, bei diesem Theater.
Jodler ging zu Fuss, er kannte Wege, die von der Polizei nicht abgeriegelt worden waren.
M argrit Colani hatte Dienst. Und auch im Kantonsspital St. Gallen wird gespart. Zu wenige Ärzte, zu wenige Pfleger, zu viele Formulare und vor allem: zu viele Altersheime, die ihren Insassen verdorbene Lebensmittel servieren. Besonders beliebt: Tiramisu. Und dann erbrechen sich plötzlich ein Dutzend Alte in der Notaufnahme, krümmen sich vor Schmerzen, doch die behandelnde Ärztin muss sich zuerst um einen Mechaniker kümmern, der sich im Hause hatte nützlich machen wollen und von einer Leiter gefallen war – die ersten Röntgenbilder zeigen Wirbelbrüche, die soeindeutig sind, dass auch eine Notfallärztin weiss: Dieser Mann wird nie mehr gehen können.
Und so ein Tag war heute. Margrit organisierte die Aufnahme der vergifteten Altersheiminsassen, schwor sich, nie mehr Tiramisu zu essen, und ging nach hektischen Stunden in die Kantine. Seltsamerweise lief dort der Fernseher. Bilder von der Säntisbahn.
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