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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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wie ich hörte, von der Schwägalp in drei Stunden gemütlich zum Säntis hochklettern kann, Kranich, dann dürfte es Ihnen als Mathematiker ein Leichtes sein auszurechnen, wie lange unser Abstieg dauert. Schliesslich haben wir den Gipfel ja nicht erreicht, dank Ihnen, und das wären die steilsten 400 Meter gewesen. Die Schwägalp liegt etwa auf 1300 Meter Höhe, wir sind jetzt auf etwa 1800 Meter, also schaffen wir den Rest in einer guten Stunde.«
    Caspers sagte wenig. Er war froh, dass die Kanzlerin so gut gelaunt war, und gleichzeitig sorgte er sich um Kranich, der in weissen Adidas-Turnschuhen angereist war und tatsächlich ein braunes Köfferchen bei sich trug. »Was ist denn da drin?«
    »Haarbürste, Deo, ein Buch, Papier, Sonnencreme«, sagte Kranich und dachte an das Bündel unbezahlter Rechnungen, das er ebenfalls mit sich trug, und den Ersatzakku für das Handy – und natürlich seine kleine Apotheke, ohne die er nie unterwegs war.
    »Herr Kranich, sehen Sie diese wunderschönen Blumen? Können Sie mir sagen, was das für Blumen sind?«
    »Weisse Alpenrosen.«
    »Das sind zwar rosenähnliche Blumen, und sie gehören auch zu den Rosengewächsen, aber die Gattung heisst Dryas, und Sie sehen hier eine Dryas octopetala, eine Weisse Silberwurz. Sie ist ein Wahrzeichen auch der Schweizer Alpen, wobei Sie immerhin richtig erkannt haben, dass es sich um weisse Blumen handelt.«
    Kranich wollte weitergehen, aber die Kanzlerin blieb stehen. »Was fällt Ihnen an der Silberwurz auf? Was macht sie so einzigartig?«
    Kranich hatte keine Ahnung, und die Blase drückte.
    »Die Silberwurz hat fast immer acht Blütenblätter, Sie können nachzählen.«
    Kranich zählte.
    »Üblich sind in der Familie der Rosengewächse aber fünfzählige Blüten.« Die Kanzlerin sah, dass er die Beine zusammenpresste. »Wenn Sie sich in die Büsche schlagen wollen, Herr Kranich, dann öffnen Sie doch bitte nicht nur Ihre Hose, sondern auch die Augen. Rufen Sie mich, wenn Sie das Breitblättrige Knabenkraut sehen.«
    Kranich wusste nicht, auf welche Pflanze er pisste, und beeilte sich. Die Kanzlerin war wendig und geschickt und ging mit kleinen, schnellen Schritten. Caspers hatte Mühe, ihr zu folgen, und als Kranich endlich zu ihnen aufgeschlossen hatte, rief die Kanzlerin begeistert: »Potentilla aurea.«
    Kranich sah gelbe Blumen.
    »Was sehen Sie?«
    »Schöne gelbe Rosen.«
    »Falsch«, sagte die Kanzlerin, »obwohl auch das Gold-Fingerkraut zu den Rosengewächsen gehört. Haben Sie Durchfall, Herr Kranich, oder sind Sie Diabetiker?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Schade. Weil es eine Heilpflanze ist. Aber Sie wollen sich ja generell nicht helfen lassen.«
    Immer wenn Kranich endlich Tritt gefasst hatte und sich sicherer fühlte, blieb die Kanzlerin stehen, weil sie etwas Entzückendes gesehen hatte. »Schon wieder weisse Blümchen, Herr Kranich, keine Rosen, aber diesmal auch nichts Rosenähnliches. Wächst auf Geröll und mag das kalkige Gelände – im Gegensatz zu Ihnen. Haben Sie sich den Fuss verstaucht?«
    Kranich hinkte. Caspers nahm ihm das Köfferchen ab.
    Die Kanzlerin mochte sich ihre gute Laune nicht verderben lassen und dozierte weiter: » Narcissus radiiflorus, Herr Kranich, die Weisse Berg-Narzisse. Und jetzt bin ich gespannt, ob wir auch noch einer Kartäusernelke begegnen oder einem Eryngium alpinum. Einer Blumengattung, die selten vorkommt: Alpen-Mannstreu. Aber ich will nicht anzüglich sein.«
    Als Kranich sich einmal interessiert zeigen wollte und die Kanzlerin auf ein zierliches blaublühendes Gewächs hinwies, sagte sie nur: »Das ist ein gewöhnlicher Bunter Eisenhut, Kranich.«
    Beim Weitergehen erinnerte sich Kranich plötzlich an ein Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, das er in der Primarschule auswendig lernen musste. »Der Säntis«, sagte er laut.
    »So weit bin ich informiert, Johannes.«
    »Ein Gedicht.«
    »Der alte Sozi Glock mag Gedichte, ich nicht. Aber wenn Sie es holperfrei aufsagen können, dann machen Sie das. Doch bitte leise. Man sollte der Natur nicht dreinreden.«
    »O du mein ernst gewalt’ger Greis, / Mein Säntis mit der Locke weiss! / In Felsenblöcke eingemauert, / Von Schneegestöber überschauert, / In Eisespanzer eingeschnürt: / Hu! wie dich schauert, wie dich friert!«
    »Das Hu! gefällt mir, Kranich, im Übrigen ist mir warm.«
    »Das war eine Strophe des Frühlingsgedichtes.«
    »Und was sagt die Dichterin zum Säntis-Sommer?«
    »Kein Vogel zirpt, es bellt kein

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