Die Kanzlerin - Roman
einerNummer platzierte. Engel hatte die Nummer zwei. Sonja Bischoff entnahm ihm an zwei Stellen Blut und gab die Blutröhrchen dem Laboranten. Differenzierte Blutanalysen würden später im Institut gemacht, aber der Direktor hatte angeordnet, noch an Ort und Stelle Proben zu entnehmen, um eine vorläufige Diagnose stellen zu können.
Die Nummer acht war ein auffällig muskulöser junger Mann, der auf dem Bauch lag, seine linke Hand auf dem Hinterkopf. Schon bevor sie seinen Kopf zur Seite drehte, wusste sie, dass er hellrote Flecken im Gesicht hatte.
Obwohl fünf Ärzte der Zürcher Rechtsmedizin in der Kabine arbeiteten, ein Laborant und als Beobachter auch ein Gerichtsmediziner des St. Galler Kantonsspitals, war es absolut ruhig in der Gondel. Sicherheitsbeamte hatten die Bergstation abgeriegelt, und der Bundesanwalt hatte dafür gesorgt, dass niemand störte.
Zu ersticken, wenn man Kohlenmonoxid eingeatmet hat, ist kein grausamer Tod. Man schläft ein, und wenn die Dosis hoch genug ist, vielleicht schon nach weniger als einer Minute. Aber jeder Mensch spürt, wenn er stirbt, und einen schönen Todeskampf gibt es nicht. Diese Menschen in der Gondel hatten starke Stirnkopfschmerzen verspürt, sie hatten Atemnot gehabt und manche wohl Herzrhythmusstörungen, und sie hatten gekrampft, bevor sie einschlafen durften. Letztlich starben sie alle an einer Überhitzung, weil das CO die Körpertemperatur in die Höhe treibt, oder an einer Atemlähmung. Dass eine CO-Vergiftung in manchen Abhandlungen als »Chamäleon der Notfallmedizin« bezeichnet wurde, war eher eine Warnung für Notfallmediziner, die möglicherweise die Symptome falsch deuten könnten – für Gerichtsmediziner dagegen ist die Sache klar. Denn wenn sie gerufen werden, sind die Symptome eindeutig. Auch bei diesem kräftigen jungen Mann, den Sonja Bischoff mit der gleichen Sorgfalt untersuchte wie Engel.
Auf dem Flug zum Säntis hatte sie über Funk mitbekommen, dass der Pilot eines Militärhelikopters offenbar Minuten vor dem Ausströmen des tödlichen Gases in der Seilbahngondel eine merkwürdig aufgeheiterte Gesellschaft beobachtet hatte, Menschen, die wie zwanghaft lachten und sich wie euphorisiert bewegten. Für Sonja Bischoff war das ein Hinweis darauf, dass vor dem Ausströmen des Kohlenmonoxids noch eine andere Substanz die Kabine gefüllt haben musste, vielleicht Lachgas. Darüber hatte sie erst kürzlich publiziert und war darum neugierig, was die ersten Blutuntersuchungen ergeben würden und die Auswertung des Feuerlöschers durch das Labor Spiez.
» M achen wir ein paar Schritte, Kranich«, sagte die Kanzlerin, nachdem sie sich bei Mast 2 im letzten Moment dazu entschieden hatte, auch auszusteigen, sehr zum Erstaunen von Caspers. Aber sie neigte zu spontanen Aktionen, wenn auch nicht in der Politik.
»Was für eine wunderschöne Natur Sie hier haben, in diesem Appenzell, Kranich. Ich kann wirklich nicht verstehen, dass Sie ein solches Theater machen, nur weil wir ein paar Meter höher sind als sonst. Aber Natur, das ist die beste Medizin, und Sie haben auch schon wieder etwas Farbe. Caspers, Sie bleiben hier, und wenn die Gondel wieder runterkommt, rufen Sie mich. Immerhin werden wir vom Schweizer Bundesrat empfangen, darunter von einem Finanzminister, mit dem unser Kiki Ritz noch ein Hühnchen zu rupfen hat – Kranich, sagt man das so auch in der Schweiz? Jedenfalls wollen wir nicht unhöflich sein, aber die Gesundheit geht vor, und ich mache jetzt mit Johannes ein paar Schritte, die seinem Kreislauf guttun werden.«
Caspers schaute ihnen nach, und als die beiden sich immer weiter entfernten, war er beunruhigt, weil er im Notfall nichteingreifen konnte. Andererseits war kein Mensch zu sehen, weit und breit nicht, und also setzte er sich hin und döste ein.
»Was sind das für Blumen, Herr Kranich? Sie müssen sich doch ein bisschen auskennen in der heimischen Flora.«
»Meine Heimat ist der Kanton Solothurn«, sagte Kranich, und die Kanzlerin schaute ihn missmutig an.
»Herr Kranich, meinen Sie nicht, dass es ein bisschen viel verlangt ist von der deutschen Kanzlerin, dass sie sich Schweizer Kantone merken soll, von denen bis jetzt noch nie die Rede war?«
»Stimmt nicht, die ETA SA ist dort. Die Swatch wird im Kanton Solothurn produziert.«
»Nicolas Hayek, ich wünschte, dass wir in Deutschland ein paar Köpfe mehr hätten von seinem Kaliber. Wobei sein Smart ja eine lange Durststrecke hatte, was aber vermutlich nicht ganz so
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