Die Kanzlerin - Roman
Kari Fässler hatte entschieden, die internationale Medienkonferenz auf 16 Uhr zu verschieben, damit auch die Journalisten aus Übersee daran teilnehmen konnten. Sein Pressesprecher hatte überdies den Berner Kursaal reserviert, weil schätzungsweise 2000 Medienleute aus aller Welt in der Schweizer Bundesstadt eingetroffen waren. Ein solches Spektakel hatte es noch nie gegeben, aber für die Verschiebung gab es noch zwei andere Gründe: Offenbar gab es erste Hinweise auf eine Terrorgruppe, und Fässler hoffte, dass es bis zum späteren Nachmittag dazu konkrete Informationen gab. Und schliesslich hatte Bundespräsident Diller eine Sondersitzung des Parlaments veranlasst,nachdem er gehört hatte, dass es auch in Berlin eine solche Veranstaltung gab, mit Bundestag und Bundesrat. Das musste sein, und natürlich hatte er als Verteidigungsminister seines Landes eine kleine Ansprache zu halten. So war das eben in solchen Situationen, auch wenn es ihm grundsätzlich schwerfiel, sich passend auszudrücken, egal bei welcher Gelegenheit. Dillers Part war es, das deutsche Volk seines tiefsten Mitgefühls zu versichern, die abscheuliche Tat aufs schärfste zu verurteilen und dann ihm das Wort zu erteilen. Fässler schaute auf die Uhr. Um 15 Uhr musste er im Ratssaal sein und hatte noch kein Manuskript.
Später würde er sagen: »Furchtbares ist passiert in der Schweiz. Unvorstellbares hat sich ereignet in der Schweiz. Ein Geschehen, das wir aufklären werden, das verspreche ich Ihnen hier, aber eben auch ein Geschehen, das nicht rückgängig zu machen ist. Es tut mir in der Seele weh, über einen verbrecherischen Anschlag reden zu müssen, für den es weder in der schweizerischen noch in der deutschen Geschichte etwas Vergleichbares gibt. Die Schweiz hat, so wie unser Nachbarland Deutschland, dem so Furchtbares widerfahren ist, einen Krisenstab einberufen. Die beiden Länder arbeiten eng zusammen und werden dabei von allen europäischen Staaten unterstützt, aber auch von Amerika. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass es hier und heute keine Aussprache geben kann über das, was heute Morgen auf dem Säntis passiert ist. Sondern dass wir als Vertreter des Schweizer Volkes zusammengekommen sind, um uns zu erheben und schweigend der Toten zu gedenken.«
In der deutschen Hauptstadt strömten mehr als zwei Millionen Menschen zum Brandenburger Tor. Die Nachricht, dass die Kanzlerin lebte, machte zwar schnell die Runde, aber geredet wurde nicht. Noch nie hatten sich in einer Weltmetropole so viele Menschen versammelt, um zu schweigen.
Auf Anordnung des Regierenden Bürgermeisters war es der Polizei sogar untersagt, auf ihren Fahrten Sirenen einzusetzen, und auch die Rettungsfahrzeuge der Sanität arbeiteten fast ausnahmslos ohne akustische Hilfe.
Es war drückend heiss in der Stadt, aber die Gesichter der Menschen waren wie eingefroren.
Fernsehsender und Radiostationen hatten darüber informiert, dass am Nachmittag keine S-Bahnen fuhren, keine U-Bahnen und auch keine Busse. Und die Leute liessen auch ihr Auto stehen, ohne Aufforderung, und gingen zu Fuss, in die Kirchen, Moscheen, zum Brandenburger Tor, oder versammelten sich auf zentralen Plätzen in Charlottenburg, Kreuzberg, Wedding, Neukölln und Marzahn.
Das Kanzleramt war von den deutschen Sicherheitsdiensten weiträumig abgeriegelt worden, und Innenminister Eisele hatte nach Absprache mit dem Schweizer Bundespräsidenten das Parlament für 15 Uhr einberufen. Er hatte kurz mit der Kanzlerin telefoniert, doch viele Worte gab es nicht in dem Zweiminutengespräch. Zuerst würde Vizekanzler Schiller sprechen, dann er. Eisele beschloss, nichts Konkretes zu sagen, obwohl er Hinweise sowohl vom Bundeskriminalamt als auch vom Bundesnachrichtendienst erhalten hatte, die durchaus von Interesse waren. Aber in dieser Phase der Ermittlungen war vorläufig die Schweiz federführend, also der Chef des schweizerischen Inlandsgeheimdienstes, der den Krisenstab leitete. Ein gewisser Lukas Falter. Eisele kannte ihn nicht persönlich und war beschämt, dass er, zutiefst erschüttert, plötzlich daran dachte, welche Auswirkungen das Attentat auf die Wahl haben könnte. Er wollte darüber gar nicht nachdenken, aber der Gedanke war plötzlich da und kaum mehr aus dem Kopf zu kriegen.
Eisele machte eine Runde im Kanzleramt, schaute in dengrossen Konferenzraum, auf die Stühle von Lothar Engel, Merrit Amelie Kranz, Kirk Ritz …
Jemand musste eine Rede an die Nation halten. Die
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