Die Kanzlerin - Roman
dachte er. Und wenn er sich einen Vorwurf zu machen hatte, dann nur den, die Kanzlerin nicht direkt gefragt zu haben: Warum wollen Sie eine neue Handynummer? Andererseits gab es im Kabinett kein einziges Regierungsmitglied, das auf die wechselhaften Tonalitäten der Kanzlerin nicht entsprechend wechselhaft reagierte. Ihr Vorgänger hatte sich das Recht genommen, bei Bedarf ein Machtwort zu sprechen, und sie übte Macht aus, indem sie sich – und nicht nur ausnahmsweise – das Recht herausnahm, gar nichts zu sagen, bei aller Mitteilungsfreude, die sie manchmal wie unbefangen plaudern liess selbst mit jenen, die sie gezielt und kaltblütig ins Abseits befördert hatte. Die Medien publizierten regelmässig Berichte über illoyale Ministerpräsidenten, über offene oder verdeckte Pokerrunden mächtiger Provinzfürsten, die auf ihre Stunde warteten. Und tatsächlich war es so, dass die Kanzlerinüber keine Seilschaften verfügte und im Kanzleramt thronte, umzingelt von Feinden, gottverlassen und misstrauisch wie Nero. Mit dem Unterschied, dass sich ihre Feinde bislang immer selbst erdolcht hatten. Ob ihr aber jemand das Leben gerettet hatte, interessierte sie in aller Regel überhaupt nicht. Über die notorische Illoyalität der Kanzlerin gegenüber den raren Getreuen in ihren Truppen aber berichteten die Medien nur ausnahmsweise. Nie wurde Deutschland von einer Kanzlerin regiert, die über so wenig Macht verfügte. Aber sie profitierte von ohnmächtigen Verhältnissen und beförderte diese. Sie war die Kanzlerin der Ohnmacht. Sie war stark wie keiner ihrer Vorgänger.
»Ach, Herr Haxer, schön, Sie zu sehen, unsere kleine Morgenrunde hat Sie vermisst. Wo haben Sie denn gesteckt? Verschlafen?«
Es passierte selten, dass er der Kanzlerin im Flur begegnete.
»Kommen Sie auf einen Sprung in mein Büro? Mein schönes neues rotes Handy werden Sie sicher nicht vergessen haben, Herr Kanzleramtschef, aber darum geht es jetzt gar nicht. Es gibt andere, sogar erfreuliche Dinge. Das Kabinett – beziehungsweise Teile des Kabinetts – plant einen Sommerausflug auf den Säntis. Und ich möchte Sie bitten, dafür die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Ob ich selber daran teilnehme, ist noch ungewiss, also planen Sie bitte diesen Schulausflug mit und ohne mich. Kennen Sie den Säntis?«
»Ein Berg in der Schweiz«, sagte Haxer. »Ist die Schweizer Regierung schon informiert?«
»Ach, Herr Haxer. Machen Sie sich kundig, nehmen Sie die nötigen Kontakte auf, Frau Entwicklungshilfeministerin Kranz, die liebe Merrit Amelie, wird Ihnen dabei sicher sehr gern behilflich sein. Wobei ich das ›sehr gern‹ etwas betont habe, wie Ihnen sicher nicht entgangen sein dürfte. Läuft da eigentlich etwas?«
»Bitte?« Haxer war empört.
»Herr Haxer, sich als Mann gelegentlich eine kleine Entwicklungshilfe zu leisten, das kann doch nicht schaden, meinen Sie nicht? Oder entfaltet sich Ihre Manneskraft anderweitig?«
Das ging zu weit, und das wusste sie, also fragte Haxer nur: »Wann und wie viele Minister?«
»Vergessen Sie die Ministerinnen nicht, Herr Haxer, ich könnte sonst auf die Idee kommen, dass Sie vielleicht den Einfluss der Frauen in diesem Haus unterschätzen. Und es ist immerhin mein Haus, von dem ich rede.«
»Ich unterschätze Personen und Situationen nur sehr selten, Frau Kanzlerin. Und umgekehrt gilt das ebenso: Ich überschätze Personen und Situationen in der Regel auch nicht.«
»Sondern?«, fragte die Kanzlerin.
»Sondern ich meine, dass es meist angemessener und ausreichend ist, wenn man eine Person schätzt.«
»Ich überschätze Sie jedenfalls nicht, Herr Haxer, wenn wir schon einmal Klartext miteinander reden. Sie wissen, warum ich Sie ins Kanzleramt geholt habe. Sie sind mir dafür auch dankbar, und gleichzeitig nehmen Sie es mir übel. Das kann ich gut verstehen. Solch zwiespältige Gefühle sind mir nicht unbekannt. Aber, Herr Haxer, Leisetreterei mag ich trotzdem nicht. Und Sie benehmen sich mir gegenüber gelegentlich so, als ob ich etwas gegen Sie in der Hand hätte. Herr Haxer, Sie haben mein volles Vertrauen, oder um es mit Ihren Worten zu sagen: Ich schätze Sie. Also bitte veranlassen Sie das Nötige. Und vergessen Sie mein rotes Handy nicht.«
C ookie: »Joker, du hast Schlagzeilen gemacht, die wir uns hätten ersparen sollen.«
Joker: »Ich hab den Stick, das war der Auftrag.«
Clara: »Du hast ein Blutbad angerichtet.«
Joker: »Nichts, was nicht nötig war, um ihn zum Reden zu bringen. Und
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