Die Kanzlerin - Roman
dazu etwas denken konnte, öffnete Silikon-Susi ihren roten Mund, und die Sprechblase sagte ihm: »Auf dem Gipfel ist die Freiheit grenzenlos.«
Loderer loggte sich aus. Vom Bundespresseamt zum Kanzleramt: fünf Minuten mit dem Roller. Er war zu früh und leerte seine Taschen. Kugelschreiber, Kleingeld, Nagelknipser, eine Marke für die Lidl-Einkaufswagen, ein Messer. »Das Messer bleibt hier«, sagte die Sicherheitsbeamtin. Er musste seine Mappe öffnen, aber die war leer. »Da ist nichts drin«, sagte die Kontrolleurin. »Ich weiss«, sagte Loderer, ohne eine Erklärung abzugeben. Er musste noch einmal seinen Ausweis vorlegen, dann war er durch und in diesem schrecklichen Gebäude, das Kohl so grossartig fand. Aber es war nur gross, dieses Kanzleramt. Schröder hatte es gehasst, seine Frau Doris hatte es gehasst, und vermutlich hasste es auch die Kanzlerin. Jedenfalls übernachtete sie, wie Loderer gehört hatte, praktisch nie hier und liess sich selbst nach Nachtsitzungen in ihre kleine Privatwohnung in Mitte chauffieren.
»Sie werden gerufen«, sagte eine Sekretärin, die wie eine Referendarin gekleidet war. Den angebotenen Kaffee hatte er abgelehnt, ebenso das Mineralwasser, gegen das er allergisch war. Loderer schaute aus dem Fenster. Blick auf die Spree, Blick auf den neuen Hauptbahnhof, davor der Bunker der Schweizer Botschaft, Blick auf den Reichstag. Blick auf die Uhr: noch fünf Minuten.
Schliesslich konnte die Kanzlerin nicht mehr widerstehen und öffnete die bislang ungelesene SMS: »Säntis, schöne Aussichten. Mozart grüsst.«
Die Unruhe, die sie plötzlich verspürte, war zweifellos berechtigt, und trotzdem ärgerte sie sich über sich selbst. Der Simser war offenbar erpicht darauf, möglichst bald enttarnt zu werden. Denn immerhin erlaubte er sich die Frechheit, auf den geplanten Ausflug von Kabinettsmitgliedern anzuspielen, von dem, selbstredend, nur ein paar wenige Leute wussten. Also müsste das eruierbar sein. Theoretisch kam als Absender das ganze Kabinett in Frage. Plus deren persönliche Berater. Plus Pressestellen, die vermutlich schon an fröhlichen Texten arbeiteten. Plus Kranich. Plus BKA, BND, plus ein Umfeld, das der Kanzlerin in diesem Augenblick ganz und gar nicht gefiel. Denn sicher war: Mozart war kein Solist, er war ein Mitglied des Orchesters, oder zumindest hockte er im Orchestergraben einer Politik, die zunehmend unberechenbarer wurde. Die Bild-Zeitung hatte heute ein Foto publiziert, das den sozialdemokratischen Vorsitzenden zeigte, zusammen mit dem Vizekanzler: Aussenminister Jeremias Schiller. Er sass am Tisch, schneeweisses Hemd, gebräuntes Gesicht, strahlend und kräftig. Und Pils, sein Parteichef, schaute ihm über die starke Schulter, böse, kalt, klein, voller Hass.
Verlierer sind gefährlich, sagte sie immer, das hat die Geschichte gezeigt. Verlass ist nur auf die Gewinner.
Die Kanzlerin schaute auf die Uhr und simste: »Herr Mozart, ich kann es Ihnen in Dur oder Moll sagen: Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich bin nicht allmächtig, was zu beweisen Ihnen offenbar so wichtig ist, aber Ihnen fehlt dafür das absolute Musikgehör. Und das zu haben wäre in Ihrer Situation wichtig. Sie sind nicht mehr als das, was ich eine Belästigung nenne. Aber nur eine kleine. Wenn Sie mir etwas angeblich Wichtiges zu sagen haben, dann tun Sie das und orakeln bitte nicht länger herum.«
»Herr Loderer ist da«, sagte die Büroleiterin, und die Kanzlerin stellte sich ans Fenster. Sie blickte ihn nicht an.
»Herr Oberer oder Loderer oder wie Sie auch immer heissen mögen – Federer jedenfalls nicht, den würde ich kennen: Wie kommen Sie dazu, mir eine derart ungehörige Rede zu schreiben? Und das, ohne dass Ihnen dafür ein Auftrag erteilt wurde, soweit ich informiert bin.«
»Loderer«, sagte er, um etwas Zeit zu gewinnen. »Filip Loderer.«
»Ach, ein Filip, das hätte ich mir doch gleich denken können.« Sie drehte sich zu ihm hin. »Ein schmaler Wurf, würde ich sagen, dünn genug für einen Maulwurf, aber dann doch mit einem etwas zu harmlosen Gesicht für solche Tierchen. Ich habe mich geschämt, als ich das gelesen habe, Herr Loderer.«
Es war ihm peinlich.
»Ein Glas Wasser, Herr Loderer?«
»Warum«, fragte er, »wissen Sie von dieser Rede, Frau Kanzlerin, wenn ich fragen darf?«
»Loderer Filip, ich pflege, gewissenhaft, wie ich nun einmal bin, meine Mails zu lesen. Die meisten öffne ich zwar nicht, aber heute war da eine Mail mit dem Betreff ›Kanzlerin hält
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