Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
Vom Netzwerk:
Tragen eigentlich alle Appenzeller Männer Ohrschmuck? Egal. Ein bisschen frische Luft würde mir sicher ganz guttun. Und immerhin bin ich herzlichst zu einem Gipfeltreffen auf dem Säntis eingeladen worden.«
    »Von wem?«
    »Herr Kranich, dick, wie die Luft nun einmal ist, gibt es den Vorschlag der bekanntlich romantisch veranlagten Entwicklungshilfeministerin Merrit Amelie Kranz, sich die Welt einmal aus einer anderen Perspektive anzuschauen. Und wenn sie sich nicht irrt, dann hat man vom Säntis aus sechs Länder im Blickfeld. Immerhin, Kranich. Namentlich Blick auf Liechtenstein und die Schweiz, und ich hoffe, dass es Sie nicht stört, wenn ich diese beiden Länder in einem Atemzug nenne. Obwohl Sie Ihr Geld ja zuverspielen pflegen und es somit in keine dubiosen Stiftungen stecken können. Ich mag Seilbahnen nicht, aber wenn ich mir vorstelle, wie unser Umweltminister Engel auf dem Säntis nach Luft schnappt, obwohl er dort doch seine saubere Umwelt hat, das wäre schon sehr amüsant. Bei dieser Gelegenheit: Was heisst Klimaerwärmung, Herr Kranich? Man kann sich für einen Gedanken erwärmen, man kann ein Herz erwärmen, oder man kann sich mit einer Bettflasche unter die Decke legen, aber ein Klima ist ein Klima, und in dieser Stadt friere ich. Wir leben in einer verdammt kalten Stadt, und jedenfalls Menschen mit trockener Haut sollte dringend davon abgeraten werden, sich hier allzu lange aufzuhalten. Der Ostwind ist beissend, woran sich so bald auch nichts ändern wird. Klimaschutz, schön und gut und politisch gesehen ein Glücksfall, aber man muss sich auch vor dem Klima schützen können. Oder, Herr Kranich, haben Sie schon einmal ein Klima niesen hören?«
    »Gewitter, Unwetter, Überschwemmungen …«
    »Das Gegenteil von Klimaerwärmung heisst jedenfalls nicht Klimaerkältung, Kranich, sondern Klimaabkühlung. Was mich an den Kühlschrank erinnert. Ist was drin?«
    »Ja.«
    »Für Sie auch?«
    »Danke, nein.«
    »Sie wissen genau, dass ich nicht gern allein trinke«, sagte die Kanzlerin, öffnete den Kühlschrank, schaute Kranich an und schloss ihn wieder.
    »Das ganze Kabinett geht auf den Säntis?« Kranich wollte den Faden noch einmal aufnehmen.
    »Ein Tagesausflug«, sagte die Kanzlerin. »Die Frau Troost sei mir willkommen, der Herr Agrarminister Valentin Hendricks, Financier Kiki Ritz, der Lothar, unser aller Umwelt-Engel, und natürlich Merrit Amelie Kranz, unsere rothaarige Samariterin. HerrKranich, ich hoffe, dass der Delegation des Schweizer Bundesrates in so luftiger Höh das Bankgeheimnis nicht davonflattert. Die Schweiz macht das gut, finde ich. Ich würde einen solchen Standortvorteil auch nicht einfach preisgeben, obwohl es, von unten her betrachtet, also nicht mit Blick vom Säntis, durchaus ärgerlich sein kann, dass mehr als sechzig Jahre nach dem Krieg wieder Deutsche in die Schweiz flüchten, weil sie sich unser Deutschland offenbar nicht leisten wollen. Aber, und auch das gehört zur Wahrheit: Die Schweizer machen es richtig. Wenn sie etwas sagen, dann mag das zwar oft langsam und schwerfällig wirken, aber die Deutsche Bank steht da wie eine Eins, weil es einen Glanzmann gibt – er hat diesen Namen verdient, und vielleicht kommt er auch mit auf den Säntis. Also, Kranich, was ich meine, ist: Ihr Schweizer habt etwas Wesentliches begriffen, was in der Politik von Bedeutung ist. Nämlich: Und sie bewegt sich doch, die Welt, aber eben nicht ganz so schnell, wie wir Deutschen reden, und schon gar nicht so schnell, wie die Medien das gerne hätten. Die Schweizer haben begriffen, dass Politik nicht schnell sein muss. Aber präzise muss sie sein und auf der Höhe der Zeit. Sie merken, wir sind wieder bei unserem Thema, womit aber auch gesagt ist, dass sich dieses Gespräch nun seinem Ende zuneigt. Aber ich sehe es Ihrer Nasenspitze an: Sie wollen mir noch etwas sagen, Kranich.«
    »Auf dem Säntis wurde ein Mord verübt«, sagte Kranich und erzählte von jenem Winter 1922, von dem noch immer geredet werde in der Schweiz. »Ein berühmter Mord«, sagte er, »dieser Säntismord.« Vermutlich sei es an einem Februartag passiert. Herr Haas, der Wetterwart, und seine Frau Maria Magdalena seien oben gewesen. Aber dann habe das Paar plötzlich keine Wetterberichte mehr ins Tal übermittelt, und darum seien sogenannte Säntisträger zum Gipfel hochgestiegen, um nachzuschauen. Da habe man den Doppelmord entdeckt. Drei Wochen später habe sich einSchustergeselle in einer Alphütte erhängt, und

Weitere Kostenlose Bücher