Die Kanzlerin - Roman
›Die Litanei des Satans‹ nicht. Die zweite Strophe, die hab ich mir gemerkt: O König des Exils, den man mit Schmach bedeckt, / Und der, besiegt, voll Trotz das Haupt nur höher reckt, / Satan, erbarm dich mein in meiner tiefen Not! «
»Passt.«
»Passt gut, Herr Haxer, aber die fünfte Strophe passt streng genommen für uns alle, leider: Der sich die Todesnacht zur Liebsten wählt und Herrin, / Mit ihr die Hoffnung zeugt, die wunderholde Närrin, / Satan, erbarm dich mein in meiner tiefen Not! Ich möchte Sie ja nur ungern noch länger quälen mit einer Poesie, die Ihnen offensichtlich fremd ist, aber finden Sie nicht auch, dass die Politik bei den Menschen permanent eine Hoffnung weckt, die nicht mehr ist als eben eine wunderholde Närrin, und dass wir diese Hoffnung zwar nicht in Todesnächten erzeugen, aber in Wahlnächten, und Versprechungen machen, die allenfalls der Teufel verzeiht, Gott jedenfalls nicht?«
Haxer hatte genug, was der Kanzlerin nicht entging. Und dass sie sein kaum mehr zu unterdrückendes Unbehagen bemerkte, das wiederum entging ihm nicht. Die Frage war jetzt, ob er diesen Raum erhobenen Hauptes verlassen konnte oder sich davonzuschleichen hatte.
»Ach, Frau Kanzlerin, was ich Sie noch fragen wollte: Haben Sie Ihr schönes, neues Handy, das Ihnen so gefällt, weil es rot ist, schon ausprobiert? Funktioniert es? Und kommen jetzt auch schönere Anrufe?«
Er hatte die Dienste informiert, das war klar. Die Kanzlerin drehte ihm den Rücken zu, trank einen Schluck Mineralwasser und sagte: »Was für ein wunderschöner Tag.«
Dann wollte sie sich mit Loderer verbinden lassen. »Mit wem?«, hatte die Büroleiterin gefragt? »Loderer«, sagte die Kanzlerin, »wie Federer. Sie brauchen sich also bloss die Fee wegzudenken vor dem ›derer‹, weil es sonst nicht der ist, der er ist und den ich jetzt brauche, also Loderer.« Aber Loderer meldete sich nicht, und so liess sie sich mit seinem Redenschreiberkollegen Bossdorf verbinden.
» H err Bossdorf, Sie sind doch einer, der gern auf ungewöhnlichen Websites herumstöbert und vielleicht so erfährt, was sich die Leute manchmal seltsamerweise denken, wenn sie ihr Innerstes nach aussen kehren und ihre intimsten Erlebnisse im ganzen Netz verbreiten. Tagebücher, Blogs usw. – ich denke, Sie wissen schon, was ich meine, Herr Bossdorf. Wenn stimmt, was kolportiert wird. Mich würde interessieren, was für Vorstellungen die Leute haben in Sachen Mode. Können Sie das bitte für mich recherchieren?« Bevor Bossdorf nachfragen konnte, sagte die Kanzlerin: »Wichtiges Telefonat«, und legte auf.
Was zum Teufel wollte sie von ihm? Mode, ausgerechnet. Bossdorf war verärgert. Seine Mutter wartete. Der Auftrag war unklar, also hatte er das Recht, Genaueres zu erfahren und damit etwas Zeit zu gewinnen. »Sehr geehrte Frau Kanzlerin, gerne will ich in Ihrem Sinne recherchieren, brauche dazu aber noch ein paar konkrete Ansatzpunkte. Mit freundlichen Grüssen, Bossdorf.«
Die Antwort kam prompt. »Sehr geehrter Herr Bossdorf, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Ich pflege meine E-Mail-Kontakte auf jene Personen zu begrenzen, mit denen ich beruflich oder privat viel und regelmässig zu tun habe. Zu diesem Personenkreis zähle ich Sie – zumindest vorläufig – nicht. Ich bitte Sie also, mit mir künftig telefonisch zu kommunizieren oder mir Ihre Anliegen gegebenenfalls mündlich vorzutragen. Zur Sache selbst: Sie wissen, dass es kürzlich eine doch beachtliche Flut von Presseberichten gab, weil ich mich bei einem kulturellen Anlass offenbar ein bisschen offenherzig gezeigt habe. Ich will aber nicht wissen, was die Journalisten, sondern was die Leute darüber denken. Klären Sie das bitte für mich ab. Kleine Infomappe genügt. Die nötige Diskretion setze ich voraus. Bis morgen? Danke. K.«
Ein peinlicher Auftrag. Aber sie war die Kanzlerin.
W ie üblich hatte Bossdorf ein schlechtes Gewissen, als er sich auf den Weg machte, um seine Mutter zu besuchen. Sie würde ihm Vorwürfe machen, weil er gestern nicht gekommen war, obwohl sie wusste, dass er sie nur jeden zweiten Tag besuchen konnte. Sie würde etwas schimpfen, aber er würde freundlich bleiben, wie immer. Und er würde sich interessiert zeigen, das war das Wichtigste für sie. Dass er sich interessierte, dass er Anteil nahm an ihrem Leben. Bossdorf verstand das sehr gut. Er war das einzige Kind, und sie lebte allein. Einen Bekanntenkreis hatte sie nicht, und so gesehen konnte er es ihr nicht
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