Die Kanzlerin - Roman
unbekannte Drittperson handelt, Frau Hell ihn also nicht kannte, wobei diese Theorie nach dem Suizid von Tim Boron eher zu vernachlässigen ist.«
»Es gibt auch Leute, die sich das Leben nehmen, ohne vorher jemanden umgebracht zu haben«, murmelte die Kanzlerin. »Suizid? Auf welche Weise?«
»Als Fallanalytiker« – Kummer liess sich nicht beirren – »kommt man eher selten in die Lage, in so kurzer Zeit relativ belastbare Aussagen machen zu können.« Brack unterbrach ihn: »Ein Zimmermädchen des Hotels Park Inn fand Tim Boron heute Morgen um 9 Uhr 35 reglos im Bett. Er war teilweise bekleidet. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsversuche der Rettungssanitäter blieben erfolglos. Die Leiche Borons wurde daraufhin ins Gerichtsmedizinische Institut überführt.«
Professor Birnbaum war ein eitler Gockel, aber gut, wie man so hörte. Also hörte ihm die Kanzlerin auch gut zu.
»Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen. Die wahrscheinliche Todesursache aber steht fest: Herr Boron starb an einem Medikamentencocktail, wobei wir im Augenblick nur eine Substanz mit Sicherheit nachweisen konnten: GHB.«
»Reden Sie deutsch«, sagte die Kanzlerin, »das verlangen wir von unseren Bürgern mit Migrationshintergrund auch.«
»GHB steht für eine Substanz, die man allgemein als K.-o.-Tropfen bezeichnet. An sich sind diese sogenannten K.-o.-Tropfen nicht dazu gedacht, sich das Leben zu nehmen …«
»… sondern sich Frauen gefügig zu machen …«
»… obwohl es natürlich auch da eine letale Dosis gibt, aber eine solche Konzentration von GHB haben wir nicht gefunden bei Herrn Boron, und so läge die Vermutung nahe, dass es bei ihm zu einer unüblichen allergischen Reaktion gekommen ist, dass er kollabierte und dann erstickte, aber …«
»… aber so ist es nicht, sondern wie ist es, Herr Professor?«
»Fest steht, dass Herr Boron die Substanz oder die Substanzen oral zu sich genommen hat und sie ihm – auch dazu wird sich der Fallanalytiker noch äussern – vermutlich nicht von einer Drittperson und gegen seinen Willen verabreicht wurden. Da ich hier aber keinen forensischen Vortrag halten möchte …«
»Ich bitte darum«, sagte die Kanzlerin.
»… beschränke ich mich an dieser Stelle nur auf das Allerwesentlichste«, sagte Professor Birnbaum und wurde von der Kanzlerin erneut unterbrochen: »Das Wesentlichste ist immer das Allerwesentlichste, Herr Professor, was mir, ganz spontan, auch wesentlich scheint …«
»Wenn ich dann fortfahren dürfte, Frau Kanzlerin. Bei Borons Leiche fanden sich, wie gesagt, keinerlei Anzeichen für Gewalteinwirkungen Dritter.«
Einerlei ist keinerlei, pflegte die Kanzlerin manchmal zu sagen, sagte aber nichts, sondern hörte dem Fallanalytiker Kummer zu: »Die Überprüfung der Hotelminibar ergab, dass Boron Stunden vor seinem Tod zwei Fläschchen Campari getrunken hat« – Professor Birnbaum nickte –, »um so möglicherweise den unangenehmen Geschmack gewisser Substanzen erträglicher zu machen, die er in der Folge einnahm. Die Spurensicherung fand im Hotelzimmer allerdings auch Hinweise darauf, dass Herr Boron möglicherweise in der Tatnacht Damenbesuch hatte.«
»Was für Hinweise?«
»Wir überprüfen derzeit ein rotes Frauenhaar auf DNS-Spuren. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein – ich gebe zu, das istvorläufig eine Spekulation –, dass Tim Boron nach dem tödlich eskalierenden Streit mit Frau Hell ein Hotelzimmer angemietet hat, um sich hier mit den Folgen seiner Tat auseinanderzusetzen. Wäre er zu sich nach Hause gegangen, hätte er mit seiner Verhaftung rechnen müssen. Es ist im Übrigen nicht selten, dass sich namentlich Affekttäter nach einem Tatgeschehen zuerst in einer Art Schockzustand befinden. Danach folgt oft eine Phase, in der ein solcher Täter Zeit gewinnen und sich ablenken will, alles vergessen möchte und dabei Dinge tut, die das Tatgeschehen möglichst verdrängen sollen. Das könnte erklären, warum Herr Boron eventuell Damenbesuch hatte, bevor er sich dann dafür entschied, Suizid zu begehen.«
»Mit einer nichtletalen Dosis, Herr Professor?«
Birnbaum reagierte sofort: »Für ein suizidales Geschehen spricht einiges, wobei der gesunde Menschenverstand allein dafür nicht ausschlaggebend sein kann. Vielleicht wollte er sich auch nur zudröhnen. In zwei, drei Tagen ist der Forensiker klüger und kann fundierte Aussagen zu dieser Frage machen.«
»Das alles erscheint mir bis jetzt noch etwas mager, meine
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