Die Kapuzinergruft
gefrorenen Grund. Ich wandte mich ab.
Wir erhoben uns. Die Mutter umarmte Elisabeth, ohne sie zu küssen. »Du fährst mit den Herrschaften!« befahl sie mir. »Komm heute abend!« fügte sie hinzu. »Ich will die Stunde der Trauung wissen. Es gibt Schleie blau!« Sie winkte mit der Hand, wie Königinnen mit Fächern winken. Sie entschwand.
Im Wagen unten, mein Schwiegervater fuhr im Auto (er nannte mir die Marke, und ich behielt sie nicht), erfuhr ich, daß in der Döblinger Kirche alles parat sei. Die Stunde, wahrscheinlich zehn Uhr vormittags, sei noch nicht bestimmt. Unsere Trauzeugen waren Zelinsky und Heidegger. Einfache Zeremonie. »Schlicht militärisch«, sagte mein Schwiegervater.
Am Abend, während wir die Schleie blau langsam und vorsichtig verzehrten, begann meine Mutter, wohl zum erstenmal, seitdem sie Herrin in ihrem Haus war, während des Essens von den sogenannten ernsten Gegenständen zu sprechen. Ich begann eben, die Schleie zu loben. Sie unterbrach mich. »Vielleicht sitzen wir zum letztenmal beisammen!« sagte sie. Mehr nicht. »Du gehst heute aus, Abschied nehmen, wie?« – »Ja, Mama!« – »Morgen, auf Wiedersehen!« Sie ging, sie sah sich nicht mehr um.
Freilich ging ich Abschied nehmen. Das heißt: ich irrte eigentlich herum, um Abschied zu nehmen. Hier und dort nur traf ich einen Bekannten. Die Leute auf den Straßen stießen von Zeit zu Zeit unverständliche Rufe aus. Es bedurfte einiger Minuten, bevor ich ihren Sinn begriff, und die Rufe waren schon verklungen. Manchmal spielte die Musik den Radetzkymarsch, den Deutschmeistermarsch und »Heil du, mein Österreich!« Es waren Zigeunerkapellen, Heurigenkapellen in kleinbürgerlichen Lokalen. Man trank Bier. Wenn ich eintrat, erhoben sich ein paar Unteroffiziere, und auch die Zivilisten winkten mir mit den Bierkrügeln zu. Es kam mir vor, daß ich der einzige Nüchterne in dieser großen Stadt war und deshalb auch fremd in ihr. Ja, die vertraute Stadt entzog sich mir, rückte von mir fort, jeden Augenblick weiter, und die Straßen und Gassen und Gärten, so erfüllt und laut sie auch waren, schienen mir bereits ausgestorben, so, wie ich sie später sehen sollte, nach dem Krieg und nach unserer Heimkehr. Ich irrte herum bis zum Morgengrauen, nahm im alten Bristol ein Zimmer, schlief, angestrengt, erhitzt und gegen Gedanken, Pläne, Erinnerungen unaufhörlich fechtend, ein paar Stunden, ging ins Kriegsministerium, bekam günstigen Bescheid, fuhr in unsere Kaserne, Landstraßer Hauptstraße, und verabschiedete mich von Major Pauli, unserm Bataillonskommandanten, bekam einen »offenen Befehl«, der mich – schon hieß ich: Leutnant Trotta – zu den Fünfunddreißigern instradierte, eilte nach Döbling, erfuhr, daß ich um zehn Uhr dreißig getraut werden sollte, fuhr zu meiner Mutter und teilte es ihr mit, und dann zu Elisabeth.
Wir gaben vor, daß Elisabeth mich eine Strecke begleiten sollte. Meine Mutter küßte mich, wie gewöhnlich, auf die Stirn, stieg in den Fiaker, hart, kalt und schnell, trotz ihrer langsamen Art. Es war ein geschlossener Wagen. Bevor er sich noch in Bewegung setzte, konnte ich bemerken, daß sie hastig das Rouleau hinter der kleinen Wagenscheibe zuzog. Und ich wußte, daß sie drinnen, im Dämmer des Coupés, eben zu weinen begann. Mein Schwiegervater küßte uns beide, munter und sorglos. Er hatte hundert überflüssige Redensarten in der Kehle, locker fielen sie heraus, verwehten schnell wie Gerüche. Wir verließen ihn, ein wenig brüsk. »Ich lasse euch allein!« rief er uns nach.
Elisabeth begleitete mich nicht nach dem Osten. Wir fuhren vielmehr nach Baden. Sechzehn Stunden lagen vor uns, sechzehn lange, volle, satte, kurze, flüchtige Stunden.
XVIII
Sechzehn Stunden! Seit mehr als drei Jahren liebte ich Elisabeth, aber die vergangenen drei Jahre erschienen mir kurz im Verhältnis zu den sechzehn Stunden, obwohl es doch umgekehrt hätte sein sollen. Das Verbotene ist raschlebig, das Erlaubte hat von vornherein in sich schon die Dauerhaftigkeit. Außerdem schien mir auf einmal Elisabeth zwar noch nicht verändert, aber bereits auf dem Weg zu irgendeiner Veränderung. Und ich dachte an meinen Schwiegervater und fand auch ein paar Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihm. Ein paar ihrer ganz bestimmten Handbewegungen waren sichtbarlich vom Vater ererbt, ferne und verfeinerte Echos der väterlichen Bewegungen. Einige ihrer Handlungen auf der Fahrt in der elektrischen Bahn nach Baden beleidigten mich beinahe. So
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