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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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– und drückte mir die Hand. Ich schickte meiner Mutter ein Telegramm, daß ich unseren Diener bis zu meiner Abreise noch zurückhalten müsse. Wir aßen Schinken, Käse, Äpfel. Wir tranken zwei Flaschen Nußdorfer.
    Der Alte lag da, blau, sein Atem ging wie eine rostige Säge durchs Zimmer. Von Zeit zu Zeit bäumte sich sein Oberkörper, seine verkrümmten Hände zerrten an der dunkelroten, gesteppten Decke. Der Doktor feuchtete ein Handtuch an, spritzte Essig darauf und legte es dem Sterbenden auf den Kopf. Zweimal stieg ich die Treppe zu Elisabeth empor. Das erstemal blieb alles still. Das zweitemal hörte ich sie laut schluchzen. Ich klopfte stärker. »Laß mich!« rief sie. Ihre Stimme drang wie ein Messer durch die geschlossene Tür.
    Es mochte gegen drei Uhr morgens gewesen sein, ich hockte am Bettrand Jacques', der Doktor schlief, ohne Rock, den Kopf in die Hemdärmel gebettet, über dem Schreibtisch. Da erhob sich Jacques mit ausgestreckten Händen, öffnete die Augen und lallte etwas. Der Doktor erwachte sofort und trat ans Bett. Jetzt hörte ich Jacques' alte, klare Stimme: »Bitte, junger Herr, der gnädigen Frau sagen lassen, ich komme morgen früh zurück.« Er fiel wieder in die Kissen. Sein Atem besänftigte sich. Seine Augen blieben starr und offen, es war, als brauchten sie keine Lider mehr. »Jetzt stirbt er«, sagte der Doktor, gerade in dem Augenblick, in dem ich entschlossen war, wiederum zu Elisabeth hinaufzugehen.
    Ich wartete. Der Tod schien sich dem Alten nur äußerst sorgsam zu nähern, väterlich, ein wahrer Engel. Gegen vier Uhr morgens wehte der Wind ein welkes, gelbes Kastanienblatt durch das offene Fenster. Ich hob es auf und legte es Jacques auf die Bettdecke. Der Doktor legte mir den Arm um die Schulter, beugte sich dann über den Alten, horchte, nahm die Hand und sagte: »Ex!« Ich kniete nieder und bekreuzigte mich, zum erstenmal nach vielen, vielen Jahren.
    Kaum zwei Minuten später klopfte es. Der Nachtportier brachte mir einen Brief. »Von der Gnädigen!« sagte er. Das Kuvert war nur halb zugeklebt, es öffnete sich gleichsam von selbst. Ich las nur eine Zeile: »Adieu! Ich geh' nach Haus. Elisabeth.« Ich gab dem fremden Doktor den Zettel. Er las ihn, sah mich an und sagte: »Ich verstehe!« Und nach einer Weile: »Ich ordne schon alles, mit Hotel und Bestattung und Frau Mama. Ich bleibe ja vorläufig in Wien. Wohin gehst du heut?« – »Nach dem Osten!« – »Servus!«
    Ich habe den Doktor nie wiedergesehen. Ich habe ihn auch nie vergessen. Er hieß Grünhut.

XIX
    Ich ging als »Einzelreisender« ins Feld. Den Brief meiner Frau hatte ich im ersten Anfall von Unmut, verletzter Eitelkeit, Rachsucht, Gehässigkeit vielleicht – was weiß ich – zerknüllt und in die Hosentasche gesteckt. Jetzt zog ich ihn hervor, glättete den Knäuel und überlas die eine Zeile noch einmal. Es war mir klar, daß ich mich gegen Elisabeth versündigt hatte. Eine Weile später kam es mir vor, daß ich mich sogar schwer gegen sie versündigt hatte. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben, ich machte mich auch daran, das Papier aus dem Koffer zu holen, aber als ich ausgepackt hatte – man zog damals noch mit ledernen Schreibmappen ins Feld –, strömte mir aus dem leeren blauen Blatt gleichsam mein eigener Unmut entgegen. Es war, als müßte das leere Blatt eigentlich alles enthalten, was ich noch Elisabeth zu sagen hatte, und als müßte ich es abschicken, so glatt und wüst, wie es war. Ich schrieb nur meinen Namen darauf. Diese Post gab ich auf der nächsten Bahnstation ab. Noch einmal zerknüllte ich den Zettel Elisabeths. Noch einmal steckte ich den Knäuel in die Tasche.
    Ich war, laut dem »Offenen Befehl«, ausgestellt vom Kriegsministerium, von Stellmacher unterzeichnet, zum Landwehrregiment Numero 35 instradiert, das heißt direkt zum Regiment, nicht etwa zum Ergänzungsbezirkskommando, das infolge der kriegerischen Ereignisse aus dem gefährlichen Gebiet in das Innere des Reiches verlegt worden war. Ich sah mich also vor der ziemlich verwickelten Aufgabe, mein Regiment, das sich auf dem ständigen Rückzug befinden mußte, irgendwo in einem Dorf, in einem Wald, in einem Städtchen, kurz: in einer »Stellung« ausfindig zu machen, das heißt ungefähr, als ein Irrender, einzelner zu einer flüchtenden, irrenden Einheit zu stoßen. Dergleichen hatten wir freilich in den Manövern niemals gelernt.
    Es war gut, daß ich dieser Sorge vor allem hingegeben sein mußte. Ich

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