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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Herr!«
    »In einer halben Stunde!« hatte ich Elisabeth gesagt. Ich zögerte, nach der Uhr zu sehen. Es mochte wohl schon mehr als eine Stunde verflossen sein, aber die blassen, alten Augen Jacques', in denen sein Herzweh wohnte und das meiner Mutter, wollte ich nicht entbehren. Es war mir, als hätte ich jetzt die dreiundzwanzig leichtfertig und lieblos verbrachten Jahre meines Lebens wettzumachen, innerhalb einer Stunde, und statt wie sonst ein Jungvermählter die sogenannte neue Existenz anzufangen, bestrebte ich mich, vielmehr die verflossene zu korrigieren. Am liebsten hätte ich wieder bei der Geburt angefangen. Es war mir klar, daß ich das Wichtigste versäumt hatte. Zu spät. Ich stand vor dem Tod und vor der Liebe. Einen Augenblick – ich gestehe es – dachte ich sogar an ein schändliches, schmähliches Manöver. Ich konnte Elisabeth eine Nachricht schicken, daß ich sofort wegmüsse, ins Feld, glattweg. Ich konnte es ihr auch sagen, sie umarmen, Trostlosigkeit, Verzweiflung spielen. Es war nur die Wirrnis einer kurzen Sekunde. Ich hatte sie sofort überwunden. Ich verließ das Astoria. Treulich, einen halben Schritt hinter mir, ging Jacques.
    Knapp vor dem Eingang zum Hotel, gerade als ich mich umwenden wollte, um mich von Jacques endgültig zu verabschieden, hörte ich ihn röcheln. Ich wandte mich halb um und breitete die Arme aus. Der Alte sank an meine Schulter. Sein Halbzylinder kollerte hart über die Steine. Der Portier trat heraus. Jacques war ohnmächtig. Wir trugen ihn in die Halle. Ich bestellte den Arzt und lief hinauf, Elisabeth zu verständigen.
    Sie saß immer noch über ihrem Humoristen, trank Tee und schob kleine Scheibchen Toast mit Marmelade in ihren lieben roten Mund. Sie legte das Buch auf den Tisch und breitete die Arme aus. »Jacques«, begann ich, »Jacques ...« und stockte. Ich wollte das fürchterlich entscheidende Wort nicht aussprechen. Um den Mund Elisabeths aber züngelte ein lüsternes und gleichgültiges und frohgemutes Lächeln, das ich in diesem Augenblick mit einem makabren Wort allein verscheuchen zu können glaubte – und also sagte ich: »Er stirbt!« Sie ließ die ausgebreiteten Arme fallen und antwortete nur: »Er ist alt!«
    Man holte mich, der Arzt war gekommen. Der Alte lag schon in seinem Zimmer im Bett. Sein steifes Hemd hatte man ihm ausgezogen. Über seinem schwarzen Gehrock hing es, ein glänzender Panzer aus Leinen. Die gewichsten Stiefel standen wie Wachtposten am Fußende des Bettes. Die Socken aus Wolle, vielfach gestopft, lagen schlaff neben den Stiefeln. Soviel bleibt übrig von einem einfachen Menschen. Ein paar Knöpfe aus Messing auf dem Nachttisch, ein Kragen, eine Krawatte, Stiefel, Socken, Gehrock, Hose, Hemd. Die alten Füße mit den verkrümmten Zehen lugten unter dem unteren Deckenrand hervor. »Schlaganfall!« sagte der Doktor. Er war eben einberufen worden, Oberarzt, schon in Uniform. Morgen sollte er zu den Deutschmeistern. Unsere vorschriftsmäßige gegenseitige militärische Vorstellung nahm sich neben diesem Sterbenden aus wie die Inszenierung eines Theaterstücks in Wiener Neustadt etwa. Wir schämten uns beide.
    »Stirbt er?« fragte ich. »Ist es dein Vater?« fragte der Oberarzt. »Unser Diener!« sagte ich. Ich hätte lieber mein Vater gesagt. Der Doktor schien es bemerkt zu haben. »Er stirbt wahrscheinlich«, sagte er. »In dieser Nacht?« Er hob fragend die Arme.
    Der Abend war hurtig hereingebrochen. Man mußte Licht machen. Der Doktor gab Jacques eine Kardiazolspritze, er schrieb Rezepte, klingelte, schickte nach der Apotheke. Ich schlich mich aus dem Zimmer. So schleicht ein Verräter, dachte ich. Ich schlich auch noch die Treppe zu Elisabeth empor, als fürchtete ich, jemanden zu wecken. Elisabeths Zimmer war geschlossen. Das meine lag daneben. Ich klopfte. Ich versuchte zu öffnen. Auch die Verbindungstür hatte sie abgeschlossen. Ich überlegte, ob ich Gewalt anwenden sollte. Aber im gleichen Augenblick wußte ich ja auch schon, daß wir uns nicht liebten. Ich hatte zwei Tote: Die erste war meine Liebe. Sie begrub ich an der Schwelle der Verbindungstür zwischen unseren zwei Zimmern. Dann stieg ich ein Stockwerk tiefer, um Jacques sterben zu sehen.
    Der gute Doktor war immer noch da. Er hatte den Säbel abgeschnallt und die Bluse aufgeknöpft. Es roch nach Essig, Äther, Kampfer im Zimmer, und durch die offenen Fenster strömte der feuchte, welke Duft des abendlichen Herbstes. Der Oberarzt sagte: »Ich bleibe hier«

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