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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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die Bluse ab. Meine Mutter bemerkte, daß mein rechter Hemdärmel einen langen Riß hatte. »Zieh das Hemd aus, ich will es flicken«, sagte sie. »Nicht«, bat ich, »es ist nicht sauber.« Niemals hätte ich in unserem Hause sagen dürfen, etwas sei dreckig oder schmutzig. Wie rasch diese zeremonielle Ausdrucksweise wieder lebendig wurde! Jetzt erst war ich zu Hause.
    Ich sprach nichts, ich sah nur meine Mutter an und aß und trank, was sie für mich vorbereitet, auf hundert listigen Wegen wahrscheinlich erschlichen hatte. Alles, was es sonst damals für keinen in Wien gegeben hatte: gesalzene Mandeln, echtes Weizenbrot, zwei Rippen Schokolade, ein Probefläschchen Cognac und echten Kaffee. Sie setzte sich ans Klavier. Es war offen. Sie mochte es so stehengelassen haben, seit einigen Tagen, seit dem Tag, an dem ich ihr meine Ankunft mitgeteilt hatte. Wahrscheinlich wollte sie mir Chopin vorspielen. Sie wußte, daß ich die Liebe für ihn als eine der wenigen Neigungen von meinem Vater geerbt hatte. An den dicken, gelben, bis zur Hälfte abgebrannten Kerzen in den bronzenen Leuchtern am Klavier merkte ich, daß meine Mutter jahrelang die Tasten nicht mehr angerührt hatte. Sie pflegte sonst jeden Abend zu spielen, und nur an Abenden und nur bei Kerzenlicht. Es waren noch die guten dicken und nahezu saftigen Kerzen einer alten Zeit, während des Krieges hatte es derlei bestimmt nicht mehr gegeben. Meine Mutter bat mich um Streichhölzer. Es war eine plumpe Schachtel, sie lag auf dem Kaminsims. Braun und vulgär, wie sie dalag, neben der kleinen Standuhr mit dem zarten Mädchengesicht, war sie fremd in diesem Raum, ein Eindringling. Es waren Schwefelhölzer, man mußte warten, bis sich ihr blaues Flämmchen in ein gesundes, normales verwandelte. Auch ihr Geruch war ein Eindringling. In unserem Salon hatte immer ein ganz bestimmter Duft geherrscht, gemischt aus dem Atem ferner, schon im Verblühen begriffener Veilchen und der herben Würze eines starken, frisch gekochten Kaffees. Was hatte hier der Schwefel zu suchen.
    Meine Mutter legte die lieben alten weißen Hände auf die Tasten. Ich lehnte neben ihr. Ihre Finger glitten über die Tasten hin, aber aus dem Instrument kam kein Ton. Es war verstummt, einfach gestorben. Ich begriff nichts. Es mußte ein seltsames Phänomen sein; von Physik verstand ich nichts. Ich schlug selbst auf einige Tasten. Sie antworteten nicht. Es war gespenstisch. Neugierig hob ich den Klavierdeckel hoch. Das Instrument war hohl: die Saiten fehlten. »Es ist ja leer, Mutter!« sagte ich. Sie senkte den Kopf. »Ich hatte es ganz vergessen«, begann sie ganz leise. »Ein paar Tage nach deiner Abreise hatte ich einen seltsamen Einfall. Ich wollte mich zwingen, nicht zu spielen. Ich hab' die Saiten entfernen lassen. Ich weiß nicht, was mir damals durch den Kopf gegangen ist. Ich weiß wirklich nicht mehr. Es war eine Sinnenverwirrung. Vielleicht sogar eine Geistesstörung. Ich habe mich jetzt erst erinnert.«
    Die Mutter sah mich an. In ihren Augen standen die Tränen, jene Art Tränen, die nicht fließen können und die wie stehende Gewässer sind. Ich fiel der alten Frau um den Hals. Sie streichelte meinen Kopf. »Du hast ja so viel Kohlenruß in den Haaren«, sagte sie. Sie wiederholte es hintereinander ein paarmal. »Du hast ja so viel Kohlenruß in den Haaren! Geh und wasche dich!«
    »Vor dem Schlafengehen«, bat ich. »Ich will noch nicht schlafen gehen«, sagte ich, wie einst als Kind. Und: »Laß mich noch etwas hier, Mama!«
    Wir setzten uns an das kleine Tischchen vor dem Kamin. »Ich habe beim Aufräumen deine Zigaretten gefunden, zwei Schachteln Ägyptische, die du immer geraucht hast. Ich habe sie in feuchte Löschblätter gepackt. Sie sind noch ganz frisch. Willst du rauchen? Sie liegen am Fenster.«
    Ja, das waren die alten Hundert-Packungen! Ich besah die Schachteln nach allen Seiten. Auf dem Deckel der einen stand, von meiner Schrift, gerade noch zu entziffern, der Name: Friedl Reichner, Hohenstaufengasse. Ich entsann mich sofort: Es war der Name einer hübschen Trafikantin, bei der ich offenbar diese Zigaretten gekauft hatte. Die alte Frau lächelte. »Wer ist es?« fragte sie. »Ein nettes Mädchen, Mama! Ich habe sie nie wieder aufgesucht.« – »Jetzt bist du zu alt geworden«, antwortete sie, »um Trafikantinnen zu verführen. Und außerdem gibt's diese Zigaretten gar nicht mehr ...« Zum erstenmal hörte ich, wie meine Mutter eine Art von Scherz versuchte.
    Es war wieder

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