Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
wäre der richtige Zeitpunkt gewesen! Doch was wäre geschehen, wenn ich mit Niccolò gegangen wäre?
Ich blieb in Florenz, verhandelte heimlich mit den einflussreichsten Bankiers und Kaufleuten von Florenz und bat sie, einem Konsortium florentinischer Banken beizutreten, das den französischen Feldzug finanzierte und mit zweihunderttausend Fiorini die Freiheit für Florenz erkaufte. Libertà, das war das Wort, das alle aufhorchen ließ. Warum sie mich nicht gleich hinauswarfen, konnte ich mir denken: Eine französische Invasion war eine gute Gelegenheit, Seine Selbstherrlichkeit für immer loszuwerden. Und mit Piero den ganzen arroganten Medici-Clan. Wenn ich mit meinem unsinnigen Vorschlag den Marmorsockel der Herrschaft von Cosimo, Piero und Lorenzo il Magnifico sprengte: Warum sollten sie mich davon abhalten?
Mitte September vernahm ich besorgt die Nachricht, dass Charles mit seinem Heer in Asti eingezogen war, wo er von Ludovico Sforza und Herzog Ercole d’Este von Ferrara wie der Befreier Italiens empfangen wurde, um nach Pavia geleitet zu werden, wo er die Nachricht von der Schlacht bei Rapallo erhielt.
Papst Alexander hatte ein Bündnis mit Alfonso von Neapel geschlossen – dem Einzigen, der es wagte, sich den Franzosen entgegenzustellen, trotz der bestürzenden Nachrichten über das hervorragend ausgerüstete französische Heer, dem die italienischen Republiken und Herzogtümer nichts entgegenzusetzen hatten. Bei Rapallo schlugen die Franzosen unter Herzog Louis von Orléans Alfonso vernichtend, und der König von Neapel musste sich zurückziehen – das französische Wort dafür heißt »fliehen« –, um die Verteidigung Neapels zu organisieren.
Spätestens nach der Niederlage von Rapallo konnte ich mir ausmalen, was die französische Invasion für Italien bedeutete. Dieser Krieg würde anders sein als alles, was Italien seit Hannibals Invasion erlebt hatte. Die italienischen Condottieri hatten ihre gut bezahlten Söldner bisher immer aus eigenem Interesse in der Schlacht geschont. Sie hatten Gefangene gemacht, die gegen Lösegeld nach einer mehr oder weniger komfortablen Zeit der »Gastfreundschaft« nach Hause geschickt wurden. Bei dieser italienischen, dieser zivilisierten Art der Kriegführung floss nur selten Blut. Die Franzosen waren anders. Wie ein Erdbeben erschütterte die Nachricht Italien, dass die Franzosen nach der Eroberung von Rapallo nicht nur die bewaffnete Besatzung der Festung, sondern auch Frauen und Kinder niedergemacht hatten.
Ich fühlte mich entsetzlich schuldig … als hätte ich – und nicht Ludovico – die Franzosen ins Land gerufen. Als hätte ich Florenz an König Charles verkauft.
Was würde geschehen, wenn Piero den Franzosen Widerstand leistete? Nein, daran wollte ich nicht denken!
Wie ein Sieger zog König Charles in Piacenza ein: kampflos.
Italien zerbrach in ein buntes Mosaik von Fürstentümern ohne klar definierbare Farbe, ohne ein zusammenhängendes Muster. Eine Hand voll Spielsteine in der Hand des Eroberers, der sie nach Belieben neu an seine Mitspieler verteilen konnte, denn Italien leistete keinen Widerstand mehr.
Als Piero erfuhr, dass unsere Cousins Giannino und Lorenzino in Piacenza zu König Charles übergelaufen waren, dass Herzog Gian Galeazzo von Mailand kurz nach der Abreise Charles’ aus Pavia an einem geheimnisvollen Fieber gestorben war und Ludovico Sforza als Herzog den Thron von Mailand bestiegen hatte, dass immer mehr Florentiner und mit ihnen Fra Girolamo die Franzosen als Befreier von der Tyrannei der Medici geradezu herbeisehnten, da sah mein Bruder den Treibsand, auf dem er stand, unter ihm weggleiten.
Savonarolas apokalyptische Prophezeiung vom Herbst 1491 hatte sich bewahrheitet! Die Sintflut war gekommen, die Franzosen würden in die Toskana einfallen wie die Heuschreckenplage in Ägypten. Als der Prior von San Marco am 21. September im Dom den Zorn Gottes beschwor, herrschte Grabesstille in der Basilika. »Tu Buße, Florenz!«, brüllte der Prophet von seiner Kanzel. »Siehe, das Schwert des Herrn ist gekommen, die Prophezeiungen haben sich erfüllt! Das Strafgericht hat begonnen! Die Zeiten des Singens und Tanzens sind vorüber. Die Stunde ist gekommen, um eure Sünden mit Strömen von Tränen zu beweinen! Denn der Herr sprach: Seht, ich will eine große Flut über das Land bringen.«
Es erstaunte mich nicht, dass sich das Kloster von San Marco füllte wie Noahs Arche kurz vor der Sintflut: Viele Florentiner legten die
Weitere Kostenlose Bücher