Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
konnte. Er hatte Michelangelo vor einigen Monaten eingeladen, im Palazzo zu wohnen, und der junge Mann war in einen der leer stehenden Räume im zweiten Stock gezogen.
Michelangelo war schlank und muskulös, seine Bewegungen waren kraftvoll und beherrscht, seine Hände grazil … und blutig von der Bearbeitung des Marmors. Seine Nase war gebrochen – vielleicht in einer Schlägerei? – und schillerte in allen Farben der Palette von Maestro Ghirlandaio. Die Verletzung war noch nicht verheilt und musste ihm bei jedem Atemzug Schmerzen verursachen. Hielt Michelangelo deshalb den Kopf gesenkt und sprach bei Tisch kein Wort? Schämte er sich seines Aussehens? Er hatte mich nicht einmal angesehen, als ich ihm die Hand reichte.
Piero saß mir gegenüber an der Tafel und beobachtete mich.
»Wo ist eigentlich Giulio?«, fragte er nach einer Weile, während er von der Trüffelpastete naschte.
Lorenzo sah von seinem Teller hoch, als fiele ihm jetzt erst auf, dass Giulio nicht bei Tisch erschienen war. Er sah mich an, als erwartete er eine Antwort von mir – oder eine Entschuldigung für das Verhalten meines Bruders. Gab Lorenzo mir die Schuld an Giulios Trotz? Seit ich im Palazzo aufgetaucht war, hatte es nur Ärger gegeben. Als ich Lorenzos Blick standhielt, widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der Trüffelpastete auf seinem Teller.
Angelo beobachtete seinen Freund besorgt, während er Brot in kleine Stücke zerriss, um sie auf seinen Teller fallen zu lassen. Offensichtlich hatte er keinen Hunger.
»Vielleicht macht Giulio die Exerzitien und bereitet sich auf seine Weihe zum Priester vor«, lästerte Piero mit vollem Mund. »Oder wird er wie Gianni gleich zum Kardinal ernannt?«
»Hast du uns belauscht, Piero?«, fragte ich ungläubig.
»Ich war zufällig in der Loggia, als ihr hereinkamt. Ich saß am Fenster und habe gelesen. Euer Gespräch war nicht zu überhören. Ebenso wie dein kleines Intermezzo mit Giovanni Sforza. Gesprochen habt ihr nicht viel, aber offenbar wusstet ihr zu handeln. Der Conte schien sehr erregt, als er nach dir die Kapelle verließ. War das die Vorfreude auf weitere erotische Abenteuer?«
Für einen Augenblick war ich sprachlos! Es war bisher nicht oft vorgekommen, dass mir spitze und scharfkantige Worte fehlten, mit denen ich mich treffsicher wehren konnte, aber in diesem Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Angelo erhob sich abrupt und verließ den Speisesaal – nicht ohne uns ironisch einen angenehmen Abend zu wünschen und Piero einen verächtlichen Blick zuzuwerfen. Dem sensiblen Angelo musste die Spannung bei Tisch unerträglich gewesen sein.
Lorenzo trank einen Schluck des mit Opium versetzten Weins und starrte ins Feuer des Kamins. Er sah nicht einmal auf, als auch Piero den Teller von sich schob und aufstand.
»Einen angenehmen Abend wünschte Angelo uns und wahrscheinlich auch sich selbst, bevor er zu seinem Geliebten entschwand. Ich werde jetzt dasselbe tun. Und dir, Caterina, wünsche ich heute Nacht ebenfalls viel Vergnügen! Buona notte «, sagte Piero und knallte die Tür hinter sich zu, bevor einer der Diener sie leise schließen konnte.
Das Schweigen zwischen Lorenzo, Michelangelo und mir war unerträglich. Selbst das Knacken der glühenden Holzscheite im Kamin schien für einen Augenblick zu verstummen.
»Ist es wahr, was Piero gesagt hat?«, fragte Lorenzo nach einer Weile leise. »Dass du mit Giulio über seinen Wunsch, Priester zu werden, gesprochen hast?«
Ich zögerte. Das Letzte, was ich an diesem Abend wollte, war noch ein Wutanfall Lorenzos und eine weitere Dosis Opium in seinem Weinglas.
»Ich habe ihm verboten, Priester zu werden.«
»Giulio war sehr traurig über deine Entscheidung«, gestand ich.
»Du hast mit ihm gesprochen, nachdem er bei mir war?«
»Er weinte. Und er sagte: ›Ich werde mein Kreuz auf mich nehmen‹.«
Lorenzo stöhnte, als würde ich ihm Schmerzen zufügen. Er sprang so ungestüm auf, dass sein Stuhl hintenüber kippte. »Komm mit!«, befahl er mir und humpelte aus dem Speisesaal. Er stützte sich auf mich, während wir die Treppe hinauf zu Giulios Zimmer eilten. Dann stieß er die Tür auf und stürmte in das Schlafzimmer.
Es herrschte ein unglaubliches Chaos, als hätte mitten im Zimmer ein Wirbelsturm getobt. Die Kleidertruhen waren geöffnet und Jacken, Hosen, Strümpfe und Schuhe lagen über den Boden verstreut. Folianten waren aus dem Regal gefallen, als Giulio offensichtlich in Eile einige Bücher eingepackt
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