Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Giovanni de’ Medici in Rom die Interessen von Florenz vertrat.
Fra Girolamo wütete derart gegen die Medici, dass ich mich zornig fragte, ob es sinnvoll war, überhaupt mit ihm zu reden. Doch was sollte ich tun? Ich hatte es Lorenzo versprochen …
Giovanni Sforza trat von einem Fuß auf den anderen. Das lange Stehen bereitete ihm offenbar ebenso viel Unbehagen wie die Predigt des Dominikaners. Er stand so dicht neben mir, dass wir uns beinahe berührten. Mehr als einmal hatte ich seine irrende Hand an meiner Seite gespürt, die meine Hand suchte und nicht fand. Er langweilte sich furchtbar – er wusste ja nicht, weshalb ich hier war. Giovanni Sforza wollte mich dazu bringen, mit ihm in den Palazzo zurückzukehren … zu einem üppigen Mittagessen mit gebratenem Fasan … einem Herbstspaziergang durch den Skulpturengarten von San Marco … einer gelehrten Unterhaltung bei einem Glas Wein am Kamin … und einer leidenschaftlichen Nacht in seinem Bett.
Der Conte und ich spielten dieses Spiel seit einigen Tagen. Jeden Tag machte er einen Spielzug mehr: Am ersten Tag lud er mich zu einem köstlichen Mittagessen zu zweit ein, am zweiten Tag ritten wir nach dem Essen am Arno spazieren, am dritten Tag diskutierten wir fast drei Stunden lang über ein Sonett von Petrarca. Um zu erahnen, wie er den heutigen Nachmittag geplant hatte, brauchte ich nicht viel Fantasie …
Fra Girolamo war von der Verderbtheit der Priester und der Habgier der Reichen nun zur Zügellosigkeit der Florentiner übergegangen, die in seinen Augen nichts anderes verdienten als einen Tyrannen wie Lorenzo de’ Medici. Er verglich Florenz und Rom mit den Städten Sodom und Gomorrha, auf die Gott Feuer und Schwefel regnen ließ, um sie von der Erde zu tilgen.
»Aber weh euch, die ihr reich seid, denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten! Weh euch, die ihr satt seid, denn ihr werdet hungern! Und weh euch, die ihr lacht, denn ihr werdet klagen und weinen!«, brüllte der Frater die Worte der Bergpredigt von der Kanzel. »Ich werde meinen Weg durch die Finsternis unserer Zeit finden. Durch Verschwendung, Überfluss und Selbstgefälligkeit werde ich gehen – bis ich das Feuer erreiche, das Sodom und Gomorrha vertilgt hat und das Florenz erleuchten wird. Kehrt um! Wer den Mut hat, folge mir! Wer zurückbleibt, ist verdammt!«
Die Predigt war beendet. Kein dramatisches Zuschlagen der Evangelien, kein ›Pax vobiscum‹ , kein Amen.
Der Frater verharrte einige Augenblicke schweigend auf der Kanzel, den Kopf geneigt, die Hände zum Gebet gefaltet. Dann zog er die schwarze Kapuze seines Skapuliers über den Kopf, drehte sich abrupt um und stieg die engen Stufen hinab.
Mit fanatischem Eifer drängten die Gläubigen zum Kirchenportal, um sich mit selbstverleugnender Hingabe den Sünden der Völlerei, der Trunkenheit und unbeherrschten Wollust zu unterwerfen – zum letzten Mal! Denn der gebratene Kapaun stand auf der Tafel, wenn die Signori vom Gottesdienst zurückkehrten, und die Geliebte wartete sicher schon ungeduldig …
Ich zwängte mich an ihnen vorbei, um zu Fra Girolamo zu gelangen, der wie ein Fels in der Brandung der vorbeiströmenden Menschen stand. Ich sprach ihn an, und er drehte sich zu mir um.
»Was kann ich für Euch tun?«, fragte er leise, fast schüchtern.
Ist er es nicht gewohnt, mit Menschen zu sprechen, die nicht während der Beichte vor ihm in die Knie gehen oder zu ihm auf der Kanzel emporsehen?, fragte ich mich, erstaunt über die Verwandlung des brüllenden Löwen in eine Kirchenmaus.
Ein Mann eilte an mir vorbei zum Portal und drängte mich gegen den Frater, der einen Schritt zurückwich. Er, der vor wenigen Minuten auf der Kanzel den Zorn Gottes beschwor und das Ende der Welt verkündete, hatte Furcht, dass ich ihm zu nahe kam?
»Ich bitte um ein paar Minuten Eurer kostbaren Zeit, Prior«, brachte ich vor.
»Wenn Ihr beichten wollt, könnt Ihr Euch an die Fratres dort drüben wenden.« Er deutete in die Apsis der Kirche, wo sich die Gläubigen um die Dominikanermönche drängten, dann wandte er sich ab und verließ fluchtartig die Kirche.
Durch eine kleine Tür folgte ich ihm in den angrenzenden Kreuzgang des Konvents. Am Ärmel seines Habits hielt ich ihn zurück. »Ich suche meinen Bruder! Ich will von Euch wissen, ob er hier im Kloster ist.«
Fra Girolamo blieb stehen, drehte sich aber nicht zu mir um. »Wer ist Euer Bruder?«, fragte er leise.
»Giulio de’ Medici.«
Er zögerte, doch dann wandte er sich um.
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