Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
hatte.
Wie versteinert stand Lorenzo mitten im Raum. In der Hand hielt er ein Pergament, das er vom Schreibtisch genommen hatte.
Es war eine Seite aus dem Matthäus-Evangelium, die Giulio aus der Bibel herausgerissen hatte. Ich kannte den Spruch, der in goldverzierten Lettern auf dem Pergament stand – ich hatte ihn erst vor einer Stunde gelesen: »Jesus sagte zu seinen Jüngern: Wer mein Anhänger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« Giulio hatte mit seinem Dolch die Tinte des restlichen Evangeliumstextes und seiner Marginalien vom Pergament gekratzt. Wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er den heiligen Text zerstörte, um seine Nachricht mit zitternder Hand und widerspenstiger Feder unter die Worte Jesu zu setzen:
»Lorenzo, verzeih mir! Ich konnte nicht anders handeln. Denn ich bin der ich bin!«
Kapitel 2
»Die Würfel sind gefallen!«
H err, unser Gott, wohin hast Du uns geführt?«
Mit zum Himmel erhobener Faust stand der Dominikaner auf der Kanzel. Drohte er den Menschen? Oder Gott, der die Menschen so unvollkommen erschaffen hatte?
»Herr, in Deiner Weisheit hast Du uns die Freiheit geschenkt. Und siehe, was wir daraus gemacht haben«, rief er in das Echo seiner eigenen Worte hinein.
Wie ein Hagelsturm prasselten die zornigen Mahnrufe des Predigers auf die Gläubigen hernieder, wie Blitz und Donner fuhr seine Faust auf uns herab, um uns zu strafen, zu läutern und unsere Seelen zu retten. Moses hätte sein Volk wegen des Goldenen Kalbes nicht derart angebrüllt, wie es Fra Girolamo Savonarola mit seinem Auserwählten Volk, den Florentinern, tat. Die Israeliten hätten Moses gesteinigt – die Florentiner hörten andächtig zu, wenn der Prior von San Marco ihnen die Offenbarung des Johannes auslegte.
Während einer Atempause des Priors sah ich mich in der Basilika von San Marco um. Die Menschen drängten sich in der Kirche, als sollten sie nach dieser Predigt nie wieder Gottes Wort hören.
Der Mönch stand allein auf der Kanzel wie auf dem vom Sturm umtosten Bug eines Schiffes, unter ihm die wogende Menge, die er mit seinen Worten teilte wie Moses das Meer – in Gläubige, die andächtig an seinen Worten hingen, und in Ungläubige, die den Frater als einen verrückten Fanatiker bezeichneten.
»Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Seid bescheiden, demütig und gottesfürchtig! Ich aber sage euch: Diejenigen, die sich eure Bischöfe nennen und sich anmaßen, euch Vorbild zu sein, sind stolz und hochmütig, und sie fürchten Gott nicht so sehr wie Papst Innozenz’ Zorn«, donnerte Fra Girolamo von der Kanzel herab. »Die Kirche wird durch den Antichrist vernichtet werden. Aber Gott wird sie neu errichten. Auf einem stärkeren Fels, als es der Apostel Petrus war.« Plötzlich hielt er in seiner leidenschaftlichen Rede inne, blickte nach oben, schloss die Augen, bebend, schweigend, als lauschte er der Stimme Gottes. Dann fuhr er wie im Schmerz aufstöhnend mit seiner Predigt fort.
Fra Girolamo verkündete das Wort Gottes wie ein Mann, der mit letzter Kraft um sein Leben kämpft, der um das Heil seiner unsterblichen Seele ringt. Er focht mit den Armen, den geballten Fäusten, ermahnte, beschwor, drohte. Die Worte, heiß wie Feuer und scharf wie Schwerter, flogen über die Menge hinweg. Dann lehnte er sich über die Kanzel, als ob er herabspringen wollte zu den Menschen, um jeden Einzelnen von ihnen auf den rechten Weg zurückzuführen. Er zwang sie, mit ihm zu denken und zu fühlen, und er hielt sie fest mit einer fast dämonischen Verlockung. Er bezauberte sie, verführte sie, bezwang sie, wie Satan Jesus versucht hatte. Er ließ keinen Zweifel daran, wer die Geißel Gottes war, der erwartete Prophet, der die Kirche mit Feuer und Schwert reformieren sollte: er selbst.
Fra Girolamo zog mich in seinen Bann. Es war kein unangenehmes Gefühl – ganz im Gegenteil, es war eine herrliche Vorstellung, mich in seine starken Hände fallen zu lassen. Er würde um mich kämpfen, mich Satan entreißen, aus dem Höllenfeuer herausführen, er würde meine Hand nehmen und mir den rechten Weg weisen und ihn ein Stück weit mit mir gehen. Welch unglaubliche Präsenz dieser kleine, unscheinbare Frater hatte! Nur widerwillig riss ich mich von seinem Anblick los und erforschte erneut die Gesichter, in denen die feurigen Worte des Priors nachglühten.
Nein, Giulio war nicht hier – weder unter den Gläubigen noch im schwarz-weißen Habit eines Mönchs in
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