Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
den Reihen der Dominikaner. Quo vadis, Giulio? Wohin bist du geflohen? Hast du dein Ziel schon erreicht? Wann wirst du zurückkommen?
Seit dem Abend, an dem Giulio so überstürzt den Palazzo Medici verließ, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er war am nächsten Morgen nicht zum Frühstück erschienen und kam auch zum Abendessen nicht zurück. Die Dienerschaft wusste nicht, wohin er verschwunden war. Er war mit einer Tasche über der Schulter zu den Ställen gegangen, hatte sich selbst sein Pferd gesattelt und war die Via Larga entlanggeritten – als wollte er nur schnell etwas vor dem Abendessen erledigen: einem Freund ein paar geliehene Bücher zurückbringen oder ein Besuch im Konvent von San Marco …
Nein, Giulio war nicht in der Kirche. Vielleicht hielt er sich aus Furcht vor Lorenzos Zorn im Konvent verborgen? Es gab dort oberhalb des Kreuzganges eine Zelle, die der Familie Medici gehörte – Lorenzos Großvater Cosimo hatte sich oft von seinen Staatsgeschäften dorthin zurückgezogen, und auch sein Vater Piero hatte dort einige Wochen gewohnt.
Der Frater setzte seine Predigt mit erhobenen Händen fort, als wollte er seinen Schöpfer um Vergebung anflehen, dass er, Girolamo Savonarola, die Menschen zur Buße aufrief und nicht Gott selbst: »Ich geißele die Verderbtheit der Priester! Ich verdamme die Habgier der Reichen! Ich verfluche die Zügellosigkeit unserer Generation!«, brüllte er.
Giulio hatte mir vor seiner Flucht in der Cappella dei Magi von Fra Girolamo erzählt. Mein Bruder bewunderte den Bußprediger aus Ferrara, und so klangen seine Worte wie ein fünftes Evangelium: Girolamo Savonarola war 1452 in Ferrara geboren worden, wo sein Großvater Michele Savonarola an der Universität Professor für Medizin, Arzt des Herzogs Niccolò d’Este und Erzieher der herzoglichen Söhne war. Nach dem Medizinstudium war Girolamo in den Orden der Dominikaner in Bologna eingetreten, um einige Jahre später in seine Heimatstadt Ferrara zurückzukehren.
Im Jahr 1482 war Fra Girolamo zum ersten Mal nach Florenz gekommen, um in der Kirche San Lorenzo die Fastenpredigten zu halten – mit bemerkenswert geringem Erfolg. Sein ferraresischer Akzent und die heftigen Gesten, mit denen er seine Worte unterstrich, machten auf die humanistisch gebildeten Florentiner, die von der Kanzel einen Vortrag im eleganten Latein Ciceros mit einigen intelligenten Bezügen zu Platons Philosophie erwarteten, keinen Eindruck. Noch während seiner Predigten verließen die Gläubigen die Kirche. Für Fra Girolamo waren die Ignoranz der Florentiner und die leeren Gotteshäuser, in denen er predigte, ein deutliches Zeichen für den Niedergang der christlichen Welt und den sittlichen Verfall in Florenz, aber es war kein Grund aufzugeben! Er hatte Florenz verlassen, um als Wanderprediger durch die Lombardei zu ziehen – so wie sein großes Vorbild Jesus Christus durch Galilaea gezogen war. Doch dann war er plötzlich wieder in Florenz erschienen und begann als Prior von San Marco seine eigene Tempelreinigung …
Fra Girolamo nannte keine Namen, als er die Reichen verdammte. Er rief nicht: »Seht die Strozzi, die Tornabuoni, die Medici!« Er sprach von einem Tyrannen – und jeder wusste, wer gemeint war. Er kritisierte Missstände in der Regierung, sprach über die offensichtliche Vernachlässigung der zu erfüllenden Pflichten, von Stolz und Arroganz und Ungerechtigkeit.
Der Prior griff Lorenzo offen an! Die Predigt war eine Kriegserklärung an den Herrn von Florenz! Er nannte Lorenzo einen machtbesessenen Tyrannen, warf ihm Wahlbetrug und Veruntreuung von Steuergeldern vor, den Kauf des Kardinalats für seinen Sohn Giovanni – der noch nicht einmal die höheren Weihen erhalten hatte – und die geheimen Absprachen mit seinem Schwager Papst Innozenz über den Ablasshandel.
Ich war beschämt und traurig, wie Lorenzos Rolle als Regent von Florenz öffentlich diffamiert wurde – in der Kirche des Konvents, der von den Medici unterstützt wurde. Ich war zornig, weil Fra Girolamo die Worte Wahlbetrug und Korruption, Simonie und Vetternwirtschaft wie einen Fehdehandschuh hinwarf, Lorenzo aber keine Gelegenheit gab, zu erklären, warum Medici-Anhänger in der Signoria saßen, um Lorenzos Interessen zu vertreten, warum der Magnifico die Kosten für seine aufwändige Hofhaltung und die Empfänge für Herzöge und Botschafter in der Steuererklärung gegen die zu zahlenden Steuern aufrechnete, oder welchen Vorteil es hatte, wenn Kardinal
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