Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
unterscheidet? Dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, und dass er von seinem Schöpfer eine anima, eine Seele, erhalten hat – einen Funken von Seinem Geist und damit die Berufung zur Erkenntnis und die Begabung des freien Willens?
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Hatte Giovanni nicht geschrieben, dass Gott den Menschen erschaffen hatte, damit er »den Sinn des Großen Werkes begreift, dessen Schönheit liebt und dessen Erhabenheit bewundert«? Hatte nicht Platon gesagt … und Aristoteles …
Mit einem Mal wurde mir klar: Ich konnte dieses Buch nicht einfach nur lesen, wie man eben Giovanni Boccaccios Decamerone durchblättert, sich hier und da über ein paar Anekdoten amüsiert, es dann weglegt und schlafen geht. Ich würde die Conclusiones These für These durcharbeiten, mir Notizen machen und vor allem die zitierten Werke lesen müssen. Ohne zu wissen, was Albertus Magnus selbst geschrieben hatte, konnte ich Giovannis Werk niemals verstehen!
Verzweifelt fuhr ich mir mit beiden Händen über das Gesicht. Die Aufgabe, die Giovanni mir gestellt hatte, war hundertmal größer, als ich sie mir vorgestellt hatte! Tränen der Enttäuschung liefen über meine Wangen. Es war nicht zu schaffen! Nicht in dreizehn Tagen und Nächten und nicht in einem Jahr. Giovanni hatte neun Jahre lang in Bologna, Ferrara, Padua, Pavia und Paris studiert, hatte mit den berühmtesten Professoren disputiert, Hebräisch, Griechisch und Französisch gelernt … und ich bildete mir ein, zwischen Neumond und Vollmond zu verstehen, was die Welt zusammenhielt?
Warum hatte Giovanni mir diese Aufgabe gestellt? Wollte er mich demütigen, weil ich es gewagt hatte, ihm beim Opus Magnum assistieren zu wollen? Wollte er mich auf den Platz verweisen, der mir seiner Meinung nach als Frau zustand? Hatte er mir von seinem Leben erzählt, damit ich erkannte, wie unüberwindlich der Abgrund des Wissens zwischen mir und ihm war? Nein, das glaubte ich nicht!
Giovanni wollte tatsächlich mit mir disputieren. Quid pro quo – ein Vergnügen für ein anderes. Aber wenn er sich von unserem Disput in der Vollmondnacht eine sinnvolle Unterhaltung versprach, dann musste er mir doch zutrauen, die Conclusiones zu verstehen …
Trotzig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Nun gut, dann würde ich eben auch noch Albertus Magnus lesen und Duns Scotus und Ibn Ruschd und all die anderen, die Giovanni zitierte. Jedes Buch in der Bibliothek werde ich lesen!, versprach ich mir selbst. Ich wollte ihm beweisen, dass ich es schaffen konnte. Ich wollte es mir selbst beweisen.
Von meinem Schreibpult holte ich Feder, Tintenfass und Pergament und fertigte eine Liste der Bücher, die ich lesen und enträtseln wollte. Dann hockte ich, mit angezogenen Beinen in meine Decke gewickelt, auf meinem Sessel vor dem Feuer und las und las …
… und so saß ich noch immer, als Ginevra mich bei Sonnenaufgang fand. » Dio mio! Madonna Caterina, Ihr habt doch hoffentlich nicht die ganze Nacht hier gesessen«, rief sie aus.
Benommen schreckte ich hoch. »Ich … ich habe gelesen, Ginevra. Dabei bin ich wohl eingeschlafen.«
Schwungvoll klappte ich das Buch zu und presste es an mich, als ich zum Bett hinüberging. Sobald Ginevra verschwand, um das heiße Wasser zum Waschen zu holen, versteckte ich den Folianten unter der Matratze.
Als ich zum Frühstück im Speisesaal erschien, war ich allein mit Michelangelo. Unwillig stocherte er im Essen herum, aber er aß nicht. Wie viele Stunden hatte er geschlafen? Nicht viel mehr als ich vermutlich …
Lorenzo war noch nicht aufgestanden und – wie Filippo mir wenige Minuten später mitteilte – Madonna Lucrezia auch nicht. Ich lächelte: Lorenzo hatte die Nacht mit seiner ehemaligen Geliebten verbracht! Endlich konnte er sein Leben wieder genießen! Doch dann dachte ich an Giovannis Worte, dass die wunderbare Wirkung des Aurum potabile nicht länger als zwei oder drei Wochen anhielt. Dann würde Lorenzo die nächste, größere Dosis benötigen, um seine Schmerzen vergessen zu können. Wusste er das?
Angelo und Giovanni waren früh aufgestanden. Ich fand beide in der Bibliothek bei der Arbeit … während des gemeinsamen Frühstücks an dem Tisch, unter dem ich mich vor wenigen Stunden vor Piero versteckt hatte. Sie blätterten in einem uralten Codex und diskutierten mit vollem Mund über dessen faszinierenden Inhalt.
»Gut geschlafen?«, fragte Angelo, als ich den Lesesaal betrat.
»Ja, aber ein paar Stunden zu wenig«, gestand
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