Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
seinem Schlafzimmer verschwand.
Lautlos schlich ich den Gang hinunter zur Treppe.
Mein Plan war einfach – zumindest in der Theorie. Ich wollte aus der Bibliothek ein Buch holen, das Giovannis Folianten ähnlich sah, um anschließend im Studierzimmer jenes Buch gegen die Conclusiones auf dem Lesepult zu vertauschen, damit Lorenzo das Verschwinden nicht bemerkte, jedenfalls nicht sofort …
Mit nackten Füßen tastete ich mich Stufe für Stufe durch die Dunkelheit. Von unten wehten leise Stimmen zu mir herauf. Ich verharrte auf der untersten Stufe der Treppe, verschmolz mit den Schatten, hielt den Atem an und lauschte. Waren es die Diener, die den Festsaal aufräumten und für das Frühstück in drei Stunden herrichteten oder die letzten Gäste auf ihre Zimmer begleiteten? Nein, im Speisesaal war alles ruhig. Es waren die Wachen im Hof, die sich Karten spielend die Zeit vertrieben.
Ein paar Schritte noch, dann hatte ich die Tür der Bibliothek erreicht. Ob Giovanni wohl schon ins Bett gegangen war? Oder saß er noch immer über seine Notizen gebeugt und schrieb wie ein Besessener? Er schien keinen Schlaf zu benötigen.
Ich ergriff die Klinke und drückte sie nach unten, dann schob ich lautlos die Tür auf und spähte in den Lesesaal, an dessen Ende eine einzelne Kerze brannte. Es war jemand hier!
Im flackernden Schein erkannte ich Michelangelo, der fasziniert in einem der neuen Bücher blätterte, die Giovanni mitgebracht hatte: Leon Battista Albertis Traktat über die Architektur. Ich erkannte das Buch am roten Ledereinband. Neben ihm saß ein Mann, der ihm den Arm um die Schulter gelegt hatte und ebenfalls einen Blick in Albertis Buch warf. Es war Piero!
Unschlüssig blieb ich stehen. Was sollte ich tun? Im Lesesaal brannte nur eine Kerze, und der Raum jenseits dieser winzigen Insel aus Licht war ein Meer tiefschwarzer Schatten. Aber das Buch, das ich suchte, lag auf meinem Lesepult, fünfzehn Schritte von der Tür entfernt, fünfzehn Schritte in Richtung des Lichts. Wenn einer der beiden vom Buch aufsah, würde er mich erkennen, wenn ich mich bewegte.
Im Augenblick waren die beiden zu sehr mit Leon Battista Alberti beschäftigt, um auch nur daran zu denken, hochzusehen. Michelangelo las andächtig Albertis berühmtes Zitat vor, das ich selbst erst vor wenigen Stunden entdeckt hatte: »Der Mensch kann alles, wenn er es nur will!«
Piero lachte leise und beugte sich über das Buch, um ungeduldig weiterzublättern. Seit wann interessierte sich mein Cousin für die Kunst? Oder reizte ihn mehr die Kunst der Verführung? Sein Arm um Michelangelos Schultern …
Ich machte den ersten Schritt in Richtung meines Lesepultes: eins, dann den nächsten: zwei. Nur nicht auf einen der Strohhalme treten, die aus den Büchertruhen gefallen waren! Das knisternde Geräusch würde mich trotz meiner nackten Füße verraten. Ich ließ Piero und Michelangelo nicht aus den Augen. Gemeinsam betrachteten sie Albertis Zeichnungen. Fünf. Sechs. Würde ich in der Dunkelheit das Buch, das ich an mich nehmen wollte, überhaupt finden? Lag es noch auf meinem Lesepult? Im Gegenlicht der Kerze versuchte ich es zu erkennen, aber vergeblich. Das Licht war zu diffus. Zehn. Elf. Nur noch vier Schritte!
Piero zog Michelangelo an sich und küsste ihn zart in den Nacken.
Michelangelo schob ihn mit einer energischen Bewegung von sich und blätterte weiter, offensichtlich fasziniert von Albertis Skizzen. Dreizehn. Vierzehn. Meine Hände berührten Marsilio Ficinos Theologia Platonica, als Piero Michelangelo zu küssen versuchte. Seine Lippen senkten sich auf den Mund des Jüngeren, und ich glaubte Pieros geflüsterte Worte zu verstehen: »Komm in mein Bett, mio caro! Lass uns …«
Und ich hielt das Buch in der Hand, als Michelangelo Piero zurückstieß und so ungestüm vom Lesepult aufsprang, dass Albertis Traktat mit einem lauten Knall zu Boden fiel. Beinahe hätte er mich umgerannt, als er überstürzt in Richtung Tür flüchtete. Im letzten Augenblick wich ich ihm aus und verschwand mit meinem Buch zwischen zwei Pulten.
Michelangelo hatte mich in der Finsternis nicht gesehen!
Piero war aufgesprungen und rief ihm nach: »Warte! Lauf nicht weg! Ich bitte dich …«
Ich vernahm noch ein unterdrücktes Schluchzen – ob vor Scham oder vor Zorn vermochte ich nicht zu sagen. Dann fiel die Tür der Bibliothek mit einem dumpfen Knall ins Schloss. So laut, dass ich im ersten Augenblick dachte, der halbe Palazzo würde aus dem Schlaf gerissen. Ob
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