Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
ich, und Giovanni grinste wissend.
Nach dem Frühstück wies mich Angelo in meine Aufgabe ein.
Giovanni hatte während seiner monatelangen Reise durch Italien hunderte von Büchern, Manuskripten, Pergamenten, Notizbüchern und Papyrusrollen gefunden und zur Erweiterung der Laurenziana gekauft, der größten Bibliothek Italiens und bedeutendsten Schriftensammlung seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria. Die Neuerwerbungen mussten durchgesehen werden – das heißt mit einfachen Worten: Sie mussten gelesen, bewertet, nach Fachgebieten geordnet und katalogisiert werden. Anschließend wurden die Werke auf die Lesepulte verteilt, und ein Kalligraf aus der Kopierwerkstatt, die zur Druckerei des Palazzo Medici gehörte, ergänzte den Titel des Buches mit schönen Lettern auf einem Schild, das am Lesepult befestigt war. Sobald wir unsere Arbeit beendet hatten, würde die Laurenziana wieder den Professoren der Universität von Florenz und allen anderen Gelehrten zur Verfügung stehen, die einen Blick in die märchenhaften Schätze des Wissens werfen wollten.
Der Haufen von einhundertzweiunddreißig lateinischen Büchern, die sich rund um mein Lesepult stapelten, hätte eigentlich schon ausgereicht, um mich verzweifeln zu lassen. Wenn ich aber an meine Liste mit den Werken dachte, die ich in den nächsten dreizehn Nächten lesen wollte, um die Conclusiones zu verstehen, hätte ich heulen können. Und was war mit dem Griechisch-Unterricht bei Angelo und dem Abschreiben der Papyrusrolle mit dem Johannes-Evangelium? Wie sollte ich die Arbeit in der Bibliothek so zuverlässig erledigen, dass Lorenzo mit meinen Leistungen zufrieden war – wenn ich versagte, würde er mir niemals wieder eine solch verantwortungsvolle Arbeit anvertrauen! Wie sollte ich mir gleichzeitig das nötige Wissen erwerben, um Giovannis Examination zu überstehen und ihm beim Opus Magnum zu assistieren?
Ich durfte keine Zeit verlieren! Keine Minute.
Den ganzen Vormittag kämpfte ich mich durch ein Werk von Abu Ali Ibn Sina, der Kommentare zu Aristoteles’ Schriften verfasst hatte. Angelo sah nicht einmal auf, als ich mehrmals zu den Regalen an der Wand ging, um mir Aristoteles’ Metaphysik an mein Lesepult zu holen … und ein paar Bücher von Albertus Magnus, Ibn Ruschd und Duns Scotus, die den ganzen Morgen unauffällig neben mir lagen …
Während Angelo und Giovanni sich in den Speisesaal begaben, um am Mittagessen mit der venezianischen Delegation teilzunehmen, eilte ich mit den Büchern unter dem Arm in mein Zimmer und schob sie unter mein Bett, wo ich auch Giovannis Werk versteckt hatte. Ich würde sie in dieser Nacht lesen …
Elf Tage und elf Nächte arbeitete ich wie besessen, las, machte Notizen, repetierte, lernte auswendig.
Elf Tage und elf Nächte ignorierte ich Lorenzos neugierige Blicke und Pieros gehässige Bemerkungen zu Gian Giordanos Versuchen, mich zu einem Ausritt am Arno zu überreden. Jeden Morgen überhörte ich geflissentlich Ginevras Fragen zu meinem unglaublichen Verbrauch von sechs dicken Wachskerzen pro Nacht. Ich aß kaum etwas, schlief noch weniger, beobachtete von meinem Sessel aus den Mond, der sich immer mehr rundete, und las und las und las, bis meine Augen tränten.
Bis ich zu verstehen glaubte.
Und dem Zusammenbruch nahe war.
Es war in der zwölften Nacht. Ich brütete kurz vor Mitternacht über zwei Thesen von Thomas von Aquino – » Beatitudo est essentialiter in actu intellectu – Glückseligkeit ist wesentlich ein Akt des Intellekts« und » Tota libertas est in ratione – Alle Freiheit existiert im Verstand« –, als ich erschöpft einschlief.
Ich war so müde, dass ich nicht einmal aufschreckte, als die Conclusiones mit einem lauten Knall zu Boden fielen, das volle Tintenfass von meinen Knien rutschte und auf den Steinfliesen zerschellte …
Im Morgengrauen erwachte ich, müder als je zuvor. Ich richtete mich auf und starrte auf die Pfütze schwarzer Tinte auf dem Boden unter meinem Sessel. Das Papier mit meinen Notizen lag wie ein gesunkenes Segelschiff mitten in diesem Meer aus ungeschriebenen Worten. Meine Notizen waren unleserlich. Tinte und Pergament waren vergeudet – wie die Zeit, die ich in dem sinnlosen Versuch vertan hatte, zu verstehen …
Eines war klar: So konnte ich nicht weitermachen! In zwölf Nächten hatte ich nicht einmal ein Drittel der neunhundert Thesen durchgearbeitet. Und noch etwas war erschreckend deutlich: Ich würde die Examination nicht bestehen. Nie und
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