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Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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jemand mit einem Kerzenleuchter nachsehen kam, wer sich nachts in der Bibliothek herumtrieb?
    Piero ließ sich fluchend auf die Sitzbank fallen, dann stützte er beide Arme auf das Lesepult und barg sein Gesicht in den Händen. Weinte er? Vor Zorn oder vor enttäuschter Liebe? Ich war erstaunt, dass es einen Menschen auf dieser Welt gab, den Piero liebte – ich meine: außer sich selbst. Und ich war betroffen über die Unbeherrschtheit seiner Reaktion nach Michelangelos Flucht.
    Mit dem Buch im Arm hockte ich frierend auf dem Steinboden des Saals, spähte um das Lesepult herum und wartete ab.
    Schließlich erhob sich Piero, nahm die Kerze und kam in meine Richtung, um zornig und enttäuscht in sein Zimmer zurückzukehren. Oder in Alfonsinas … Obwohl sie sich mir gegenüber arrogant verhielt, tat sie mir doch in diesem Augenblick Leid. Das hatte sie nicht verdient.
    Atemlos rutschte ich auf allen vieren ein paar Schritte weiter und kroch unter einen der großen Tische im Mittelgang.
    Mit der Kerze in der Hand ging Piero an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Bevor er durch die Tür verschwand, sah ich, wie er sich mit der Hand über die Wange wischte. Er hatte also tatsächlich geweint! Michelangelo hatte Pieros empfindlichen Stolz verletzt, als er ihn zurückwies. Pieros Rache würde fürchterlich sein!
    Als ich allein war, begann ich wieder zu atmen. Nach einer Weile erhob ich mich vom kalten Steinboden und schlich zur Tür. Ich lauschte, aber alles war ruhig. Ein Blick in den Gang bestätigte mir: Piero war verschwunden.
    Die Loggia entlang eilte ich zu Lorenzos Studierzimmer. Im Kamin glühte noch die Asche des Feuers. Ich nahm Giovannis Conclusiones vom Bücherstapel auf Lorenzos Lesepult, legte Marsilios Theologia Platonica an dessen Stelle und huschte auf dem schnellsten Weg zurück in mein Schlafzimmer. Die Zeit drängte, der größte Teil der Nacht war bereits vergangen.
    Fröstelnd wickelte ich mich in meine Bettdecke, schlich zu dem Sessel vor dem Kamin, legte die Füße auf den Stuhl mir gegenüber und begann zu lesen. Meine Hand strich über die Seite mit der offiziellen Einladung an die Gelehrten der Welt, die neunhundert Thesen öffentlich mit Giovanni Pico zu disputieren.
    Worauf hatte ich mich eingelassen? Die größten Gelehrten hatten es nicht gewagt, mit dem Conte von Concordia über Dialektik, Moral, Physik, Mathematik, Metaphysik, Theologie, Magie und die Kabbala zu diskutieren. Das gesamte Wissen der Ägypter, Griechen, Juden und Römer, der Kirchenväter und der Muslime stand, komprimiert in neunhundert Thesen, in diesem Buch. Und ich wollte wirklich …? Ja, verdammt! Ich war so vermessen. Ich wollte es!
    Ich blätterte um und las weiter. Auf der nächsten Seite folgte die nie gehaltene Einführungsrede für das größte Konzil der Wissenschaften, das nie stattgefunden hatte. Der Titel lautete Oratio ad Laudes Philosophiae – Eine Laudatio auf die Philosophie. Der Verleger, der im Gegensatz zu den Kardinälen in Rom die Oratio offenbar gelesen hatte, setzte einen zweiten Titel darunter: Über die Würde des Menschen.
    Die Rede handelte vom Menschen und seiner einzigartigen Stellung in der Weltordnung. Von seiner Erschaffung durch Gott: »Weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich« erschuf Gott den Menschen und gewährte ihm »das zu haben, was er haben will« und »das zu sein, was er sein will.«
    Innerlich aufgewühlt blätterte ich die Seiten um. Ein Satz am Ende der Rede fasste Giovannis revolutionäre Gedanken zusammen: »Es steht dem Menschen frei, sich durch seinen eigenen Willen in die Welt des Göttlichen zu erheben.« Durch seinen eigenen Willen! Nicht durch Vermittlung der Priester oder der Sakramente! Ein Papst, der » nulla salus extra ecclesiam – kein Heil außerhalb der Kirche« auf seine Fahnen geschrieben hatte, musste Giovanni Pico zum Schweigen bringen – und ihm eben dieses Heil verweigern, indem er ihn mit dem Bann bestrafte!
    Ich erbebte, aber nicht vor Kälte. Ich hatte Feuer gefangen – wie Giovannis Bücher auf dem Scheiterhaufen der Piazza San Pietro in Rom. Fasziniert las ich weiter.
    Die ersten sechzehn Thesen der Conclusiones behandelten die Lehren des Albertus Magnus. Schon über die zweite Aussage stolperte ich: »Homo est animal.« Was, bei allen Weisen des Abendlandes, meinte Giovanni damit – oder besser gesagt: Albertus Magnus? Dass der Mensch ein Tier ist, das sich nur durch seinen aufrechten Gang von den anderen Tieren

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