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Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Abend lang sehen. Sie soll sehr blaß sein.‹ Und er versuchte, sich ihr schönes Gesicht in Farben vorzustellen, die durch die Seelenkämpfe halb verblichen waren.
    Sein Freund Ludovico, ganz betroffen von der Verrücktheit seines Herrn (so nannte er es), bekam mit Mühe eine Loge im vierten Rang, fast gegenüber der der Marchesa. Der Gedanke drängte sich Fabrizzio auf: ›Hoffentlich bringe ich sie auf den Einfall, zu meiner Predigt zu kommen. Ich werde eine ganz kleine Kirche wählen, um sie recht gut sehen zu können.‹
    Fabrizzio predigte gewöhnlich um drei Uhr. Am Morgen des Tages, an dem die Marchesa ins Theater gehen wollte, ließ er bekannt geben, daß ihn den ganzen Tag über eine Amtspflicht an die erzbischöfliche Kanzlei fessele und daß er deshalb ausnahmsweise um ein halb neun Uhr abends in der kleinen Kirche Santa Maria della Visitazione predigen werde. Diese Kirche lag gerade gegenüber einer der Seitenfronten des Palazzos Crescenzi. Ludovico überbrachte den frommen Schwestern von Maria Heimsuchung eine Riesenanzahl von Kerzen mit der Bitte, ihre Kirche damit zu erleuchten.
    Die Predigt war auf halb neun Uhr angesetzt, aber schon um zwei Uhr war die Kirche voller Leute. Gardegrenadiere waren zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgeboten; vor jeder Seitenkapelle stand ein Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr, um Diebstähle zu verhindern. Man kann sich das Gedränge in der sonst so friedlichen Straße vorstellen, der die edle Architektur des PalazzosCrescenzi das Gepräge gab. Fabrizzio hatte bekannt machen lassen, er werde der Madonna della Pietà zu Ehren über das Mitleid predigen, das eine edelmütige Seele für einen Unglücklichen hegen müsse, selbst wenn er ein Sünder wäre.
    Mit aller möglichen Sorgfalt verkleidet, gelangte Fabrizzio in seine Theaterloge, gerade als man die Türen öffnete und das ganze Theater noch dunkel war. Die Oper begann gegen acht Uhr. Wenige Minuten später empfand er jene Freude, die nur der verstehen kann, der sie im eigenen Herzen erfahren hat. Er sah, wie die Tür der Crescenzischen Loge geöffnet wurde. Kurz darauf trat die Marchesa ein. Er hatte sie seit dem Tage, da sie ihm den Fächer gereicht hatte, nicht wieder gesehen. Fabrizzio vermeinte vor Jubel zu ersticken; er fühlte sich so ungewöhnlich bewegt, daß er sich sagte: ›Vielleicht sterbe ich jetzt! Das wäre eine süße Art, dieses trübe Leben zu beschließen! Ich sänke in dieser Loge zu Boden. Die Frommen, die in Maria Heimsuchung versammelt sind, harren meiner vergeblich, und morgen erfährt man, daß ihr künftiger Erzbischof sich in eine Theaterloge verirrt hat, noch dazu als Diener verkleidet, in einer Livree –. Fahrt hin, Ehre und Würden! Was ficht mich meine Würde an!‹
    Trotzdem ermannte sich Fabrizzio gegen drei Viertel neun Uhr. Er verließ seine Loge im vierten Rang und hatte alle Mühe, zu Fuß den Ort zu erreichen, wo er seine Dienertracht mit einem würdigeren Gewand vertauschen sollte. Erst gegen neun Uhr erreichte er Maria Heimsuchung, und zwar derartig schwach und bleich, daß sich in der Kirche das Gerücht verbreitete, Monsignore könne heute abend nicht predigen. Begreiflicherweise ließen ihm die Nonnen am Gitter ihres inneren Sprechzimmers, wohin er sich geflüchtet hatte, die größte Sorgfalt angedeihen. Sie waren sehr geschwätzig. Fabrizzio bat, ihn einige Augenblicke allein zu lassen; dann eilte er auf die Kanzel. Einer seiner Getreuen hatte ihm gemeldet, daß die Kirchedella Visitazione überfüllt sei, aber durch Leute aus dem untersten Volk, die offenbar das Schauspiel der erleuchteten Kirche angelockt habe. Als Fabrizzio die Kanzel betrat, war er angenehm überrascht, alle Stühle von jungen Herren der Gesellschaft und Persönlichkeiten aus der vornehmen Welt besetzt zu sehen.
    Seine Predigt begann mit einigen Entschuldigungsworten, die mit unterdrückten Beifallsrufen aufgenommen wurden. Dann kam die leidenschaftliche Schilderung des Unglücklichen, mit dem man Erbarmen haben müsse, wenn man der Madonna della Pietà die geziemende Ehre erweisen wolle, ihr, die selbst hienieden so viel gelitten habe. Der Redner war tief bewegt. Bisweilen vermochte er nur mit Anstrengung die Worte so auszusprechen, daß sie in allen Teilen dieser kleinen Kirche verstanden wurden. Allen Frauen und auch einem reichlichen Teil der Männer kam es vor, als gliche er selbst dem Unglücklichen, mit dem man Mitleid haben müsse, so ungeheuer bleich sah er aus. Nach den einleitenden

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