Die Kartause von Parma
Entschuldigungsworten bemerkte man, daß er heute ganz anders sei als sonst; man erlebte an ihm an jenem Abend eine Schwermut, die inniger und rührender war als gewöhnlich. Mit einem Male sah man seine Augen voll von Tränen; zugleich stieg aus der Hörerschaft ein allgemeines Schluchzen empor, so vernehmlich, daß es die Predigt unterbrach.
Dieser ersten Unterbrechung folgten zehn weitere; manche der Zuhörer stießen Rufe der Bewunderung aus, andere bekamen Weinkrämpfe; alle Augenblicke hörte man Ausrufe wie: »O pietosa Madonna!« »O santissima madre!« Die Rührung dieser erlesenen Gemeinde war so allgemein und so unüberwindlich, daß sich niemand scheute, ihr laut Ausdruck zu geben, und daß die, die dazu hingerissen wurden, ihren Nachbarn keineswegs lächerlich erschienen.
In der Pause, die gewöhnlich in der Mitte der Predigt gemacht wird, erzählte man Fabrizzio, im Theater seibuchstäblich niemand verblieben; nur eine einzige Dame sitze noch in ihrer Loge, die Marchesa Crescenzi. Während dieser Pause hörte man plötzlich starken Lärm in der Kirche. Seine Gemeinde stimmte dafür, dem Herrn Koadjutor ein Standbild zu errichten.
Der Erfolg, den er im zweiten Teil seiner Predigt hatte, war dermaßen toll und weltlich, statt der Ausbrüche religiöser Zerknirschung nahmen die Äußerungen völlig weltlicher Bewunderung derartig überhand, daß sich Fabrizzio für verpflichtet hielt, seinen Zuhörern beim Verlassen der Kanzel einen Tadel auszusprechen. Daraufhin strömte alles mit einem Male hinaus in einer seltsamen und gemessenen Bewegung, und auf der Straße angekommen, begann alles wie rasend zu klatschen und zu rufen: »Evviva del Dongo!«
Fabrizzio sah hastig auf seine Taschenuhr und lief an ein kleines Gitterfenster, das den engen Gang von der Orgel ins Innere des Klosters erhellte. Aus Höflichkeit gegen die ungeheuere und ungewöhnliche Menge, die die Straße erfüllte, hatte der Schweizer des Palazzos Crescenzi ein Dutzend Pechfackeln in die eisernen Arme gesteckt, die man an den Vorderseiten mittelalterlicher Paläste häufig erblickt. Nach einigen Minuten, als die Rufe noch lange nicht verstummt waren, trat das wirklich ein, was Fabrizzio mit so bangem Herzen ersehnt hatte. Der Wagen der Marchesa kam vom Theater zurückgefahren; der Kutscher mußte halten, und nur ganz langsam und unter fortwährendem Rufen erreichte der Wagen endlich das Portal.
Die Marchesa war durch die erhabene Musik weich gestimmt, wie das allen unglücklichen Herzen ergeht, aber mehr noch durch die gänzliche Leere im Theater, als sie den Grund erfuhr. Mitten im zweiten Akt, als der gefeierte Tenor gerade sang, hatte selbst das Parkettpublikum plötzlich seine Sitze verlassen. Alle wollten ihr Glück versuchen, in die Kirche della Visitazione zu gelangen. Als sich die Marchesa durch die Volksmenge vor ihremTor aufgehalten sah, brach sie in Tränen aus. ›Ich hatte keine schlechte Wahl getroffen!‹ sagte sie sich. Aber gerade wegen dieser gerührten Anwandlung setzte sie dem Zureden des Marchese und aller Freunde des Hauses, die nicht begriffen, daß sie sich, einen so erstaunlichen Kanzelredner nicht anhören wolle, die entschiedenste Weigerung entgegen. »Er hat sogar den besten Tenor Italiens ausgestochen!« sagte man. ›Wenn ich ihn sehe, bin ich verloren!‹ dachte die Marchesa.
Vergeblich predigte Fabrizzio, dessen Rednergabe mit jedem Tage glänzender wurde, noch mehrere Male in derselben Kirche gegenüber dem Palazzo Crescenzi. Nie bekam er Clelia zu Gesicht; ja sie ward schließlich sogar darüber unwillig, daß er danach trachtete, ihre friedliche Straße in Unruhe zu versetzen, nachdem er sie schon aus ihrem Garten verscheucht hatte.
Wenn Fabrizzio unter den Gesichtern seiner Zuhörerinnen suchte, bemerkte er schon seit längerer Zeit das niedliche Antlitz einer sehr hübschen Brünette mit glühenden Augen. Diese herrlichen Augen waren gewöhnlich bereits nach den ersten Sätzen seiner Predigt in Tränen gebadet. Wenn Fabrizzio bisweilen langschweifige und für ihn selber langweilige Stellen predigen mußte, ruhten seine Blicke gern auf diesem Gesicht, dessen Jugendfrische ihm gefiel. Er erfuhr, daß dieses junge Mädchen Annetta Marini hieß und die einzige Tochter und Erbin des vor etlichen Monaten verstorbenen reichsten Tuchhändlers von Parma war.
Bald war der Name dieser Annetta Marini in aller Munde. Sie hatte sich in Fabrizzio wahnsinnig verliebt. Als seine berühmten Predigten begannen, war
Weitere Kostenlose Bücher