Die Kartause von Parma
Kunstkenntnisse hinzu. Dann wandte er sich voll Ekel ab. Die Härte seines Vaters und ganz besonders die Anzeige seines Bruders Ascanio nach seiner Heimkehr aus Frankreich kamen ihm in den Sinn.
›Diese widernatürliche Anzeige ist der Ursprung meines jetzigen Lebens. Ich kann sie hassen, ich kann sie verachten, aber schließlich hat sie mein Schicksal gewendet. Was wäre aus mir geworden, als ich nach Novara verbannt war, wo mich kaum der väterliche Verwalter dulden mochte, wenn meine Tante keine Liebschaft mit einem mächtigen Minister gehabt hätte? Wenn meine Tante statt ihrer zärtlichen und leidenschaftlichen Seele eine nüchterne und gewöhnliche Seele hätte und nicht mit jener gewissen Begeisterung liebte, die mich in Verwunderung setzt? Ja, wo stünde ich heute, wenn die Duchezza die Seele ihres Bruders, des Marchese del Dongo, hätte?
Von diesen grausamen Erinnerungen ergriffen, ging Fabrizzio nur unsicheren Schrittes weiter; er gelangte an den Rand des Grabens gegenüber der prächtigen Schloßfassade. Er warf aber kaum einen Blick auf das große, altersgraue Gebäude. Der Gedanke an seinen Bruder und Vater verschloß seine Seele jedem Gefühl für Schönheit. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur darauf, sich vor seinen scheinheiligen und gefährlichen Feinden in acht zu nehmen. Einen Augenblick lang sah er mit starkem Abscheu hinauf nach dem kleinen Fenster des Zimmers, das er vor 1815 im zweiten Stock bewohnt hatte. Der Charakter seines Vaters hatte die Erinnerung an seine Kinderzeit allen Zaubers beraubt.
›Dort war ich nicht wieder‹, dachte er, ›seit dem 7. März 1815 abends acht Uhr. Ich ging weg, um mir Vasis Paß zu verschaffen, und am anderen Morgen machte ich mich aus Angst vor Spitzeln Hals über Kopf auf die Reise. Als ich nach meiner Rückkehr aus Frankreich hier war, hatte ich dank der Gemeinheit meines Bruders nicht einmal Zeit, hinaufzugehen, um mir meine Kupferstiche wieder anzusehen.‹
Fabrizzio blickte voll Widerwillen weg. ›Der Abbate Blanio ist älter als dreiundachtzig Jahre‹, sagte er traurig bei sich. ›Er kommt fast gar nicht mehr ins Schloß, wie mir meine Schwester erzählt hat. Die Beschwerden des Alters haben sich bei ihm eingestellt. Dieses so feste und so edle Herz ist vergreist. Gott weiß, wie lange er seinen Kirchturm nicht mehr bestiegen hat! Ich werde mich im Keller verstecken, hinter den Fässern oder hinter der Weinpresse, bis er aufsteht. Ich möchte den Schlaf des guten alten Mannes nicht stören. Wahrscheinlich wird er vergessen haben, wie ich aussehe. Sechs Jahre sind viel bei seinem Alter! Ich werde nur noch den Schatten eines Freundes finden. – Es ist wirklich eine Kinderei,‹ fügte er hinzu, ›hierher zu kommen und sich vom väterlichen Schloß anekeln zu lassen.‹
Fabrizzio betrat den kleinen Platz vor der Kirche. Zuseinem Erstaunen, das sich zur Freude steigerte, bemerkte er im zweiten Stock des alten Kirchturms, daß die lange, schmale Luke durch die kleine Laterne des Abbaten Blanio erleuchtet war. Der Abbate hatte die Gewohnheit, sie dorthin zu stellen, wenn er in den Holzkäfig hinaufkletterte, der seine Sternwarte war, damit der Lichtschein ihn nicht am Lesen seiner Himmelskarte hindere. Diese Karte war auf einem großen Tonkübel angebracht, in dem ehemals ein Orangenbaum des Schlosses gestanden hatte. Auf dem Boden des Kübels brannte ein winziges Lämpchen, dessen Qualm ein kleines Blechrohr ableitete. Der Schatten des Blechrohres zeigte auf der Karte Norden an. Alle diese schlichten Erinnerungen überfluteten Fabrizzios Seele mit Rührung und erfüllten sie mit Glück.
Beinahe unwillkürlich pfiff er zwischen seinen beiden Händen den kurzen, leisen Pfiff, das einstmalige Zeichen, daß er Einlaß begehre. Alsbald hörte er, daß mehrmals an der Schnur gezogen wurde, mit der man von der Warte aus den Riegel der Kirchturmtür heben konnte. Er stürzte die Treppe hinan, erregt bis zum Überschwang. Er fand den Abbate auf seinem gewohnten Platz in seinem hölzernen Lehnstuhl; sein Blick hing unverwandt an dem kleinen Fernrohr eines Mauerquadranten. Mit der linken Hand machte ihm der Abbate ein Zeichen, er möge ihn in seiner Beobachtung nicht stören; einen Augenblick darauf vermerkte er etwas auf einer Spielkarte, worauf er sich in seinem Lehnstuhl umwandte und unserem Helden die Arme entgegenstreckte. Fabrizzio fiel ihm weinend um den Hals. Der Abbate Blanio war sein wahrer Vater.
»Ich habe dich erwartet!« sagte Blanio nach
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