Die Kartause von Parma
fürchte, trotz dem Schatten der dicken Holzläden, die die Glocken vor dem Regen schützten, erkannt zu werden. »Da kommen Gendarmen in vollem Wichs!« In der Tat erschienen zehn Gendarmen, darunter vier Obergendarmen, am Ende der großen Dorfstraße. Der Wachtmeister stellte sie mit hundert Schritt Abstand längs des Weges auf, den die Prozession nehmen sollte.
›Jeder Mensch kennt mich hier. Wenn man mich gewahrt, komme ich im Nu vom Comer See nach demSpielberg, wo man mir an jedes Bein eine hundertpfündige Kette hängt. Welch ein Schmerz wäre das für die Duchezza!‹
Fabrizzio brauchte zwei oder drei Minuten, um sich zu vergegenwärtigen, daß er sich in einer Höhe von mehr als achtzig Fuß befand, daß sein Standpunkt verhältnismäßig im Dunkeln lag, daß die Augen der Gendarmen, die ihn hätten erblicken können, vom grellen Sonnenschein geblendet wurden, und schließlich, daß sie mit aufgerissenen Augen durch die Straßen liefen, deren Häuser dem Fest des heiligen Giovita zu Ehren sämtlich frisch getüncht waren. Trotz dieser so klaren Überlegung wäre Fabrizzios italienische Seele fortan außerstande gewesen, das geringste Vergnügen zu finden, wenn er nicht ein Stück alte Leinwand, in das er zwei Löcher für die Augen schnitt, zwischen sich und die Gendarmen vor die Turmluke genagelt hätte.
Die Glocken erschütterten die Luft seit zehn Minuten; die Prozession kam aus der Kirche; die Mortaretti (Böller) knatterten los. Fabrizzio wandte den Kopf und schaute nach dem kleinen Platz, den eine Mauerbrüstung umschloß und von dem aus man den ganzen See übersah. Dort hatte er als Junge oft gestanden, und die Mortaretti waren zwischen seinen Beinen losgegangen, weshalb seine Mutter ihn am Morgen von Festtagen nicht von sich weg ließ.
Die Mortaretti sind bekanntlich nichts weiter als Gewehrläufe, in vier Zoll lange Stücke zersägt. Nur dazu sammeln die Bauern eifrig die Gewehre, die die Politik Europas seit 1796 in Massen über die lombardische Ebene verstreut hat. Die vier Zoll langen Stücke stopft man ganz voll Pulver, gräbt sie senkrecht in die Erde und verbindet sie untereinander mit einer Zündschnur. Man baut sie in drei Reihen auf, zwei- bis dreihundert Stück, unweit des Prozessionsweges. Sobald sich das Allerheiligste nähert, brennt man die Zündschnur an, und nun beginnt das unregelmäßigste und spaßigste Schützenfeuervon der Welt. Die Frauen sind toll vor Freude. Nichts ist lustiger als das Geknatter dieser Mortaretti, das weit über den See hin schallt, gedämpft durch das Rauschen der Fluten. Dieser seltsame Lärm, an dem er als Kind so oft seine Freude hatte, verscheuchte die etwas zu ernsten Gedanken, die unseren Helden übermannt hatten. Er holte sich das große astronomische Fernglas des Abbaten herbei und erkannte die Mehrzahl der Männer und Frauen, die der Prozession folgten. Viele von den reizenden kleinen Mädchen, die Fabrizzio im Alter von elf und zwölf Jahren verlassen hatte, waren jetzt stattliche Frauen in vollster Jugendkraft. Sie weckten den Mut unseres Helden wieder; um mit ihnen zu plaudern, hätte er den Gendarmen getrotzt.
Als die Prozession vorübergezogen und durch eine Seitentür, die Fabrizzio nicht sehen konnte, wieder in der Kirche verschwunden war, wurde die Hitze trotz der Höhe des Turmes bald unerträglich. Die Dorfbewohner kehrten in ihre Häuser zurück, und das Dorf sank in tiefe Stille. Etliche Barken füllten sich mit Bauern, die nach Bellagio, Menaggio und anderen Orten am See heimfuhren. Fabrizzio vernahm deutlich jeden einzelnen Ruderschlag. Der geringfügige Klang riß ihn hin; seine jetzige Freude beruhte im Grund auf all dem Unglück, all dem Zwang des ränkevollen Hoflebens. Wie glücklich wäre er in diesem Augenblick gewesen, hätte er ein Stück auf diesem schönen, so friedsamen See fahren dürfen, in dem sich der tiefblaue Himmel so klar widerspiegelte.
Er hörte die Tür unten im Turm gehen; es war die alte Haushälterin des Abbaten Blanio, die einen großen Korb brachte. Mit der größten Mühe bezwang er sich, nicht mit ihr zu sprechen. ›Sie hat mich fast ebenso ins Herz geschlossen wie ihr Herr,‹ sagte er sich, ›und überdies reise ich heute abend um neun Uhr ab. Könnte sie das Geheimnis nicht ein paar Stunden lang wahren, wenn sie es mir gelobte ? Aber es wäre vielleicht meinem Freundenicht recht; ich könnte ihn vor den Gendarmen bloßstellen.‹ Und er ließ Ghita gehen, ohne mit ihr zu sprechen. Das Essen war
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