Die Karte der Welt (German Edition)
wie Blurdo nicht müde wurde zu betonen. Seine gemischten Gefühle äußerten sich auch darin, dass er sie abwechselnd als »Händler« und »Betrüger« bezeichnete. Die Kinder betrachtete er mit weit größerem Wohlwollen. Er und der Rat hatten sogar beschlossen, sie so lange aufzunehmen, wie es sich als nötig erweisen würde.
Wex war erleichtert. Der Zwergenfürst war also doch nicht so gefühllos, wie er sie glauben machen wollte.
Den Schleier erwähnte Fretter erst gar nicht, genauso wenig wie Wex und die Karte. Blurdo war auch so schon verwirrt genug und hatte Probleme, selbst die offensichtlichsten Tatsachen zu akzeptieren. Sie konnten von Glück sagen, dass er sie überhaupt in den Turm gelassen hatte.
Wex beobachtete, wie der kleine Junge mit den grünen Augen sich von den anderen Kindern entfernte, um sich wieder an Curdwell zu hängen. Der stämmige Soldat nannte ihn »Blatt«, weil er immer noch so zitterte und Blüte seine Schwester war. Der Name passte irgendwie, und der Kleine beschwerte sich auch nicht. Curdwell brachte Blatt gerade ein Spiel bei, das mit zwei kleinen Stöckchen gespielt wurde, was ihn zumindest davon abhielt, über ihre neuen Gastgeber zu schimpfen.
Blu schlich in der Nähe herum, einen frischen Verband um den Oberarm. Als Adara von ihrer Flucht berichtete, hatte sie auch erzählt, wie Blu die fürchterliche Verletzung erlitten hatte. Sie hatte es zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, aber anscheinend hatte ein Düsterling ihm ein Stück herausgebissen, als er ihre Linien durchbrach. Aus demselben Arm, der schon verletzt gewesen war, als Blu auf der Barke des Dido um eine weitere Änderung der Karte gebeten hatte.
»Jemand ist am Fluss!«, rief einer der Lanzenträger, und alle liefen zu den Fenstern.
Wex fand sich direkt neben Brynn wieder, tat aber so, als würde er sie gar nicht bemerken, obwohl sie dicht an dicht standen.
Im Gestrüpp am anderen Ufer gab es Bewegung. Ein Seil wurde herübergeworfen, und dann watete eine kleine Gestalt hinaus in den Fluss und hielt sich daran fest. Sofort riss die Strömung sie mit, aber das Seil verhinderte, dass sie abgetrieben wurde.
»Das ist kein Düsterling!«, rief der ältere Winster, und ein Raunen ging durch den Raum.
Es war ein Junge. Als er das andere Ufer erreicht hatte, band er das Seil dort fest. Ein weiterer Junge tauchte auf, dann ein Mädchen. Wegen des langen, verfilzten Haars waren sie kaum voneinander zu unterscheiden. Einer nach dem anderen hangelten sie sich auf die andere Seite, und nur ihre Füße baumelten dabei in den Stromschnellen.
»Bei den Göttern«, keuchte Fretter. »Das sind ja Kinder!«
»Noch mehr Flusskinder?«, fragte Brynn bestürzt.
»Sei nicht so dumm«, erwiderte Wex. »Adara sagte, sie hätten es alle zu uns geschafft. Und Adara lügt nicht.«
»Ich bin nicht dumm«, entgegnete Brynn.
»Erkennst du irgendwelche von ihnen, Blurdo?«, fragte Fretter.
»Nein. Aber sie riskieren sehr viel, für jedermann sichtbar den Fluss zu überqueren.«
»Vielleicht sind das die Düsterlinge, die der junge Winster zu sehen geglaubt hat.«
»Nein«, widersprach Spragg. »Was ich gesehen habe, war echt.«
Sie zählten insgesamt fünfzehn Kinder. Als alle den Fluss überquert hatten, rannten sie sofort auf den Turm zu. Sie schrien verzweifelt.
»Sie sagen, wir sollen den Turm öffnen«, erklärte Blurdo. »Sie wollen herein.«
»Seht nur, hinter ihnen!«, keuchte einer von Blurdos Männern.
Weitere Gestalten lösten sich aus dem Dickicht am Flussufer. Größere. Düsterlinge.
»Sie kommen aus ihren Verstecken«, sagte Spragg.
Fretter kratzte sich am Kinn. »Weshalb jetzt?«
»Sie jagen die Kinder.«
»Warum haben sie sie dann nicht gefangen, als sie noch mit dem Seil beschäftigt waren?«, fragte Cirilla.
»Vielleicht wollten sie noch nicht entdeckt werden?«
Mittlerweile hatten die Kinder den Turm erreicht. Sie schrien immer noch und blickten, das nackte Entsetzen in den Augen, flehend zu ihnen herauf.
Wex fiel auf, dass sie alle unterschiedlich gekleidet waren. Einer trug die Fetzen eines Bettlers, der nächste den Pelzumhang eines reichen Kaufmanns. Kaum einer hatte zwei zueinanderpassende Schuhe an den Füßen, manche trugen schlecht sitzende Hüte oder andere, seltsame Kopfbedeckungen, und an den Hüften baumelten Gürtel mit allerlei Gerät daran. Manche der Kinder hatten braune Haut, manche helle, andere sogar leicht gelbliche, und keiner sah aus, als könnte er Bruder oder Schwester des
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