Die Karte der Welt (German Edition)
seiner Zeichnung den Schleier zurückgedrängt?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, erklärte Lothario lachend. »Aber der Berg ist nun mal da, oder nicht?«
Fretter musterte die neugierigen Gesichter, die sich über der Karte versammelt hatten. Keiner widersprach. Selbst die Ausgestoßenen waren gekommen. Pinch reckte den Kopf und war auffallend still. Mungo hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn stumm in Falten gelegt. Arkh schien über das Mysterium nachzugrübeln und wetzte sich gedankenverloren mit einem Stück Holz die Reißzähne. Nur Cirilla war zu klein, um hinter den Soldaten irgendetwas sehen zu können.
»Was für ein ungebildeter, abergläubischer Haufen ihr doch seid«, sagte Fretter und warf Lothario einen schnellen Blick zu. »Euch selbstverständlich ausgenommen, Hauptmann.«
»Du kannst deine Meinung in meiner Gegenwart gerne äußern, doch mag es sein, dass du im Unrecht bist. Junge, zeichne uns noch etwas.«
»Jetzt, Herr?«
»Natürlich jetzt. Dann werden wir ja sehen, was geschieht.«
»Wir sollten lieber abwarten«, widersprach Fretter, und Kraven nickte zustimmend.
»Unsinn«, sagte Lothario. »Zeichne.«
»Und was soll ich zeichnen?«
»Land! Noch mehr davon. Fang sofort an.«
Wex nickte gehorsam und befühlte seinen Beutel. Etwas Blut war noch übrig.
»Ihr steht mir im Licht«, erklärte er und bedeutete Fretter und den anderen, ein Stück zurückzugehen. »Ich brauche mehr Platz.«
Achselzuckend trat Fretter beiseite, und Wex kniete sich hin, während der Rest der Gruppe sich eilig formierte, um auch ja alles sehen zu können.
Cirilla zwängte sich zwischen den Beinen eines hochgewachsenen Soldaten hindurch, während Kraven sich mit finsterer Miene ganz ans Ende zurückzog, ein Auge furchtsam auf den Berg gerichtet.
»Was tut er da?«, hörte Wex Brynn fragen.
»Ich weiß es nicht, edle Dame«, erwiderte Lothario, aufgeregt wie ein Schuljunge. »Und ich kann es kaum erwarten, es herauszufinden.«
Wex tunkte den Kiel ein und wartete, bis er sich mit Blut gefüllt hatte. Dann bewegte er ihn über die Karte und hielt mit der anderen Hand einen Lappen darunter, damit keine Farbe dorthin tropfte, wo sie nicht hingehörte. Schließlich blickte er zu den Felshängen auf und setzte den Kiel an. Als die dunkle Flüssigkeit herausfloss, breitete er sie mit geübtem Strich zu einer dünnen Linie aus, die den Berg Richtung Osten erweiterte. Mit Schraffuren, so schnell, dass die neugierigen Augen um ihn herum kaum folgen konnten, vervollständigte er sein Werk. Ein weiterer Gipfel, noch höher als der erste.
Wex stand auf und begutachtete seine Arbeit. »Ein wenig grob. Die Details fehlen noch.«
Angespannt wandten sich die Umstehenden dem Berg zu. Mucksmäuschenstill warteten sie, doch nichts geschah. Sie schauten auf die Karte, dann wieder hinüber zu dem dunklen Schleier. Wex’ Zeichnung war gut, doch es passierte immer noch nichts.
»Es war nicht der Junge«, murmelte einer der Soldaten.
»Der Schleier hat sich von selbst bewegt«, stellte Fretter fest. »Nicht du.«
»Ich habe nie behauptet, ich hätte ihn bewegt«, versuchte Wex sich zu rechtfertigen.
Aber es hörte ihn niemand. Alle starrten den Berg an, wo der Schleier in kleinen Wellen zu erzittern begann.
»Bei den Göttern!«, rief Lothario.
Einige standen wie angewurzelt da. Pinch verkroch sich hinter dem riesenhaften Mungo, und Kraven ging hinter ihnen beiden in Deckung. Andere taumelten stammelnd ein paar Schritte zurück, als fürchteten sie, die schwarze Wand könnte zerspringen und sich in einer todbringenden Lawine über sie ergießen, aber stattdessen zog sie sich wabernd zurück.
Wie eine Schnecke kroch sie über Hügel und Flanken, gab zitternde Nadelbäume frei, umgestürzte gelblich graue Findlinge, ein verdutzt dreinschauendes Eichhörnchen und munter plätschernde Bäche. Schon bald war die gesamte Bergflanke enthüllt, und je weiter nach oben sich der Schleier bewegte, desto schneller wurde er, bis schließlich der Gipfel zum Vorschein kam, den Wex soeben gezeichnet hatte.
Stumm blickten die Soldaten in der Erwartung von Befehlen zu Lothario und Fretter hinüber, aber es kamen keine. Wex folgte ihrem Beispiel und hielt ebenfalls den Mund. Er war kein bisschen weniger perplex als alle anderen.
Schließlich gab Kraven von ganz hinten seine Meinung zum Besten. »Schwarze Magie!«, rief er, was die Stimmung auch nicht gerade hob, und für eine ganze Weile sagte niemand mehr
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