Die Karte der Welt (German Edition)
auf der Karte liegend, als die Sonne gerade über die Hügel kroch. Er spürte einen Stiefel im Rücken, der ihn unsanft anstieß.
»Na, Jungchen. Gut geschlafen?«
Wex drehte sich hastig um.
Lothario stand grinsend über ihm, Fretter mit todernstem Gesicht daneben. »Du benutzt die Karte von Abrogan als Bettrolle? Von nun an bis zum Tag meines Dahinscheidens wirst du nie mehr Hand an sie legen, außer ich sage es ausdrücklich! Des weiter…«
»Genug«, unterbrach Lothario. »Es gibt eine neue Entwicklung, die weit wichtiger ist als dein jugendlicher Leichtsinn, Wexford.«
»Was denn?«, fragte Wex. Er war erleichtert zu hören, dass etwas die Tatsache, dass er ein enorm kostbares Stück des Palastinventars misshandelt hatte, in den Hintergrund treten ließ.
Wex konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein. Er wusste nur noch, dass er wie besessen bis zur Erschöpfung gezeichnet hatte. Vielleicht hatte er sich zwischenzeitlich einen Moment zurückgelehnt, um sich kurz auszuruhen …
»Der Schleier hat sich zurückgezogen«, erwiderte Lothario.
Wex richtete sich auf und blickte sich um. Im ersten Moment begriff er nicht, was Lothario meinte. Dann sah er es: Der Berg, der noch am Tag zuvor von der alles verschlingenden Schwärze halb verdeckt gewesen war, ragte jetzt hoch in den Himmel auf, und sein schneebedeckter Gipfel funkelte in der Morgensonne.
»Der Schleier ist weg?«
»Nein«, antwortete Lothario. »Er ist noch da. Aber jetzt verläuft er hinter diesem Berg hier. Der Teufel allein weiß, warum.«
»Ganz recht«, bellte Kraven, der von hinten herankam. »Etwas Finsteres ist hier am Werk, eine Magie, die selbst meine beeindruckenden Kräfte übersteigt!«
»Beruhige dich, Zauberer«, erwiderte Lothario. »Ich führe diese Expedition an, und ich sage, der Fürst hat nun ein Stück Land mehr, das er sein Eigen nennen kann. Gut möglich, dass er uns dafür belohnt.« Er blickte Wex scharf an. »Wex, du wirst das neue Gebiet zeichnen.«
»Seht euch nur die Karte an«, ertönte eine aufgeregte Mädchenstimme. Es war Brynn. Ihr Blick sprang zwischen der Tierhaut und dem neuen Gipfel hin und her, dann deutete sie auf die obere rechte Ecke. »Das hat er bereits.«
Skeptisch nahm Fretter die Sache in Augenschein. Da bemerkte er die frische rote Farbe. Es war die Zeichnung eines Berggipfels, und dieser Gipfel sah genauso aus wie der vor ihnen. Ruckartig wandte er sich Wex zu. »Hast du das gezeichnet?«
Wex war ertappt. »Nun, ja«, antwortete er ausweichend. »Eigentlich wollte ich gar nicht. Ich hatte nur vor, ein kleines Stück zu zeichnen und dann …« In Wirklichkeit wusste er nicht einmal, was genau er vorgehabt hatte. Er hatte einfach begonnen zu zeichnen, weil es ihm richtig erschienen war.
»Die Ähnlichkeit ist unglaublich«, flüsterte einer der Soldaten.
»So detailreich und doch so einfach«, bemerkte ein anderer und fuhr mit dem Finger eine rote Linie nach, ohne sie zu berühren. Sie folgte der Silhouette des neuen Gipfels exakt, obwohl die ganze Zeichnung nicht größer war als eine Münze.
Fretter runzelte die Stirn. »Zugegeben, es handelt sich um eine genaue Abbildung. Aber du hättest nicht ohne Erlaubnis damit beginnen sollen.«
»Warte, Fretter«, warf Lothario ein und wandte sich Wex zu. »Du hast das letzte Nacht gezeichnet?«
Wex nickte.
»Als der Berg noch vom Schleier verhüllt war?«
»Das war er doch schon immer«, erwiderte Wex.
»In Ordnung, der Junge ist ein erstaunlich guter Zeichner. Ich gebe es ja zu«, erklärte Fretter mit einem Räuspern.
»Mir scheint, Ihr habt nicht recht begriffen, was der Hauptmann meint«, meldete Kraven sich zu Wort und strich sich mit der Hand übers Kinn. Er sah besorgt aus. Mit finsterer Miene blickte er zwischen dem Gipfel und der miniaturisierten Darstellung auf der Karte hin und her.
»Was habe ich nicht begriffen?«, fuhr Fretter ihn an.
»Etwas hat den Schleier gehoben«, murmelte Kraven, als fürchtete er sich, die Worte laut auszusprechen.
In den Ästen über ihnen quiekte ein Eichhörnchen erschrocken auf, was Fretter hastig nach seinem Schwert greifen ließ.
Lothario lachte. Er war der Einzige, der den Mut aufbrachte, laut auszusprechen, was alle dachten. »Bei Gott, unser Kartenzeichner zeichnet einen Berg, und jetzt haben wir diesen Berg vor uns!«
»Das kann nicht dein Ernst sein«, widersprach Fretter und klemmte die übereifrige Schwerthand beschämt unter der Achsel fest. »Du glaubst, der Junge hat mit
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