Die Karte der Welt (German Edition)
dieser Welt waren und ihm aufgezwungen wurden. Die Bilder hatten ihn lange gequält, länger als er sagen konnte, und er hatte schon geglaubt, es würde nie enden. Sie haben mich getötet , hatte er gedacht, und dies ist der Tod .
Doch er war nicht tot.
Vill stand mühsam auf und blickte sich um. Es war Tag, und er befand sich nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo seine Beinahemörder ihn gestellt hatten. Die Wunden im Bein waren noch frisch, und er stellte fest, dass er keinen Hunger hatte. Vill befühlte sein Gesicht – Stoppeln, aber kein Bart. Sein Körper war unverändert, wie in Eis gefroren und unbeschadet wieder aufgetaut.
Die Zeit, die er im Schleier verbracht hatte, hatte ihn dennoch verändert, aber nicht körperlich, sondern auf andere Art. Am auffälligsten war die vollkommene Abwesenheit von Gefühlen. Er dachte an sein bisheriges Leben zurück, an seine Kindheit, die Zeit als Soldat, den Verrat, aber er spürte nichts dabei. Zu oft hatte er all diese Ereignisse an seinem inneren Auge vorüberziehen lassen, während sein Geist mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war, und seine Gefühle schienen darüber fortgewaschen worden zu sein, abgetragen von den Wellen der Zeit, die schließlich seine Seele ermüdet hatten. Vill fragte sich, wie viele Jahre des Nichts es wohl gebraucht hatte, um ihn jeglicher Freude und Verzweiflung zu berauben. Ohne fühlte er sich leer, nutzlos. Er spürte keinen Antrieb zu leben, aber auch keinen zu sterben. Was sollte einen Menschen, der keine Gefühle mehr hatte, noch antreiben? Was für Ziele könnte er haben? Unter größten Mühen gelang es ihm, sich daran zu erinnern, dass er einst ein getreuer Gefolgsmann gewesen war. Doch hatte sein Herr diese Aufrichtigkeit nicht erwidert, und in dem Moment, als der Schleier ihn verschlang, hatte er ein immenses Rachebedürfnis verspürt. Unglaublich, wie stark es gewesen war. Rache. Ein ganz simpler Antrieb. Und wenn er erst wieder einen Antrieb hatte, würde er vielleicht auch Zugang zu seinen anderen Gefühlen finden. Also zwang er sich, zum tausendsten Mal jenen Tag zu durchleben, der längst vergangen war.
An jenem Tag war er in vollem Tempo durch die alten Riesenkiefern gerannt, sein Herzschlag kein bisschen langsamer als das verzweifelte Trampeln seiner stampfenden Schritte auf dem Waldboden. Sein prächtiges Streitross hatte sterbend am Ende der Ersten Straße gelegen. Er hatte die gescheckte Stute geliebt, hatte sie gehegt und umsorgt, seit sie ein Fohlen gewesen war, und er hatte es dem Reiter, der ihrem Leben mit einem Pfeil durch die Lunge ein Ende gesetzt hatte, mit einem grimmigen Schuss von seinem Langbogen vergolten.
Vill hatte so getan, als wäre er unter dem gestürzten Pferd eingeklemmt, um den Schützen näher heranzulocken. Es war ein schwieriger Schuss gewesen – in die rechte Achselhöhle, wo das Kettenhemd gerissen war. Sein Gegner hatte geflucht und seine fremdländischen Götter verwünscht, dann war er vom Pferd gestürzt und mit einem charakteristischen Knacken auf dem Boden aufgeschlagen, das Vill verraten hatte, dass sein Unterarm gebrochen war. Mit etwas Glück war die Pfeilwunde sogar tödlich, zumindest aber würde sein Verfolger so bald keine Bogensehne mehr spannen können.
Vill hatte die offene Straße verlassen und sich in die Büsche geschlagen, wo die Söldner ihn auf ihren Pferden nicht mehr verfolgen konnten. Dornen hatten ihm das Gesicht zerkratzt und ganze Haarbüschel mitsamt Wurzeln vom Kopf gerissen. Aber immerhin hatten seine Verfolger ihm nun zu Fuß nachstellen müssen, und Vill war ein hervorragender Schütze. Zweimal war er stehen geblieben und hatte aus der Deckung heraus zwei seiner Verfolger ins Jenseits befördert. Dann war er weiter die Bergflanke hinaufgerannt.
Vill hatte nicht erst nachzählen müssen. Er hatte gewusst, dass sich in seinem Köcher noch zwei vorzügliche Pfeile befanden, gefertigt vom besten Waffenschmied in ganz Abrogan. Nur leider waren von seinen Verfolgern noch mehr als zwei übrig. Er hatte sie erfolgreich dezimiert, dennoch wusste er, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Fürst Kryst hatte dafür gesorgt, dass er diesmal nicht mehr entkommen würde.
Vill war gleichsam in die Kompanie der Bogenschützen hineingeboren worden. Aufgrund seines Charismas, seiner zuverlässigen Dienste und strategischen Fähigkeiten war er schnell aufgestiegen. In kleineren Scharmützeln leistete er derart Beeindruckendes, dass er bald zu einem der
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