Die Karte der Welt (German Edition)
Berater Krysts wurde. Vill war gerade erst befördert und in den Palast berufen worden, als er sich in die Frau verliebte, die er später heiraten sollte, und es geschah am Tag ihrer Hochzeit, dass Annika mit einem unüberlegten Hüftschwung vor seiner Lordschaft sein Todesurteil unterzeichnete. Als er sah, wie der Fürst Annika betrachtete und eine Bemerkung machte, wie überaus schön sie doch sei, hatte Vill sofort gewusst, dass er in Schwierigkeiten steckte. Es half nichts, dass Vill daraufhin sofort seinen Posten quittiert und um Versetzung gebeten hatte. Kryst war bekannt dafür, sich mit möglichst vielen Frauen zu vergnügen, um sich den Anschein von Kraft und Männlichkeit zu geben. Aber in Wahrheit machte es ihn nur verwundbar und argwöhnisch. Als Annika schließlich nicht auf seine Avancen reagierte, identifizierte er Vill als das Hindernis, das ihm im Weg stand, und Vills Treue brachte ihm am Ende nicht mehr ein als einen feigen Anschlag auf sein Leben.
Aber der geizige Fürst hatte einen Fehler begangen und zu wenig Geld ausgegeben. Vill war zu einem offensichtlich fingierten Treffen in einer Bruchbude in einer erbärmlichen Gegend am Stadtrand bestellt worden, wo offen die Abwässer flossen. Vill war erschienen – aber mit seinem Bogen. Er hatte an die Tür des stümperhaften Attentäters geklopft und sich eilig auf das Dach eines Schuppens auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurückgezogen. Als der Mann öffnete und Vill den Dolch hinter seinem Rücken sah, jagte er ihm einen Pfeil genau zwischen Ohr und Kiefergelenk. Ein schneller Tod, und wahrscheinlich schmerzlos. Doch der Vorfall bestätigte, was Vill bereits vermutet hatte. Kryst war hinter ihm her, hinter ihm und seiner Frau. Also hatte er Annika verlassen und war auf dem schnellstmöglichen Weg nach Norden geflohen. Er liebte sie zu sehr. Eher sollte sie mit einem König schlafen als mit einem Soldaten sterben. Kryst war ein Narr, der nun bekommen hatte, was er für das wenige Geld verdient hatte, das er auszugeben bereit gewesen war. Statt einen armen Trottel vom heruntergekommenen Stadtrand anzuheuern, hätte er etwas mehr investieren und erfahrene Söldner von der Küste mit dem Mord an Vill beauftragen sollen.
Und genau das hatte er nun getan.
Die Sonne war bereits teilweise hinter den Bergen versunken, und Vill war, weit jenseits der vielbefahrenen Ersten Straße, immer tiefer in die unerforschten Lande vorgedrungen. Er hatte gewusst, der Schleier war nicht mehr weit. Wenn die Männer, die hinter ihm her waren, halbwegs bei Verstand waren, würden sie ihm kaum folgen. Hätte er jedoch geahnt, dass er kaum noch eine Furchenlänge von der sagenumwobenen schwarzen Mauer entfernt war, wäre ihm wahrscheinlich das Blut in den Adern geronnen. Er kannte die Geschichten seit seiner frühesten Kindheit. Finstere Geschichten. Laut den Berichten der rot gewandeten Palastpriester war der Schleier eine Art Tribut an die alten Götter, entrichtet vom Herrschergeschlecht von Skye und heraufbeschworen mit Menschenblut. Vill hatte sich oft gefragt, was die Götter an dieser Art von Tribut finden mochten. Die Mythen der Heiden behaupteten, der Schleier sei von unsichtbaren Beschützern errichtet worden, um Dämonen fernzuhalten, und in der Schule flüsterten die Kinder einander zu, dass Menschen einfach darin verschwanden. Nächtelang hatte Vill als Kind deshalb wach gelegen, hatte unter der Decke hervorgespäht und die Schatten beobachtet, auf dass sie ja nicht näher kamen. Doch auf seiner verzweifelten Flucht blieb keine Zeit für Zaudern oder Furcht. Nicht weniger als sein Leben stand auf dem Spiel, und die ausweglose Lage ließ ihm keine andere Wahl, als darum zu würfeln.
Mit zitternden Beinen war Vill stehen geblieben, um sich kurz auszuruhen. Seine Lunge schrie nach Luft. So schnell und weit war er nicht mehr gelaufen, seit er als Junge trainiert hatte, um in die Bogenschützenkompanie aufgenommen zu werden. Selbst damals war er nicht so steil bergauf gerannt, und schon gar nicht durch dorniges Gestrüpp. Er ging in die Knie und zwängte sich unter Schmerzen zwischen die dornigen Äste eines Strauchs, als die Schatten um ihn herum mit einem Mal noch schwärzer wurden. Vill reckte den Kopf und sah, dass die Sonne unterging. Bald würde der schützende Schleier der Nacht sich über ihn senken. Nicht mehr lange, und seine Verfolger könnten ihn im Zwielicht nicht mehr finden.
Ich werde ihnen entkommen! , dachte er .
Trotzdem würde er bald
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