Die Karte der Welt (German Edition)
ein Wort. Schweigend bezeugten sie, was sie nicht erklären konnten, ja nicht einmal ansatzweise verstanden. Flucht schien zwecklos. Was immer dort geschah, war bereits in vollem Gang, und ihre sterblichen Beine würden sie nicht davor retten. Also sahen sie einfach zu, wie die Schwärze sich Wex’ Zeichnung fügte.
Erst nachdem einigermaßen sicher schien, dass sie nicht verschlungen würden, trat Lothario vor sie hin. »Nun denn«, sagte er mit erzwungenem Gleichmut. »Wer von euch begleitet mich freiwillig auf eine kleine Bergwanderung?«
Wex sah die Angst von den Gesichtern der Soldaten weichen. Sie waren immer noch verunsichert, aber ihrem charismatischen Hauptmann würden sie folgen, wohin auch immer sie zu führen er kühn genug war.
»Wir sollten uns zuerst beraten«, erklärte Fretter. »Unsere Optionen aus sicherer Entfernung abschätzen.«
»Nein«, widersprach Lothario. »Wir müssen erkunden. Kaum je haben Männer wie wir Gelegenheit, Wunder wie dies hier zu bezeugen. Es ist unser Privileg … was sage ich, unsere Pflicht , das Phänomen zu erkunden.«
Fretter schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unser Auftrag. Wir wurden nicht ausgesandt, um neue Berge herbeizuzaubern. Und noch viel weniger wurde uns befohlen, in den Schleier zu gehen. Wir müssen uns besprechen …«
»Besprechen, mit wem? Mit seiner Durchlaucht? Der Palast ist mehrere Tagesritte entfernt, und Kryst hat doch selbst vor seinem eigenen Schatten Angst. Wenn wir das hier berichten, bevor wir ihm wenigstens ein paar Antworten geben können, wird er irgendein Komplott fürchten und einen seiner schwachsinnigen Neffen aussenden, um sich die Sache näher anzusehen. Und der wird dann all den Ruhm ernten, während wir so lange zu Latrinenarbeiten abkommandiert werden.«
»Ich hege keinen Zweifel an deiner hehren Absicht«, erklärte Fretter vorsichtig. »Doch kann es sein, dass du überhastet handelst.«
»Und vielleicht bist du einfach ein Feigling«, entgegnete Lothario scherzhaft. Er sagte es ohne Boshaftigkeit und ließ es eher wie eine spielerische Zurechtweisung klingen.
»Das bin ich nicht«, widersprach Fretter durch zusammengebissene Zähne.
»Hast du etwa Angst vor dem Eichhörnchen?«
Die Soldaten lachten schallend, und Fretter blickte sich unsicher um. Wie ein kleiner Junge stand er da, erniedrigt und gleichzeitig erpicht darauf, genau zu denen zu gehören, die ihn gerade verspotteten. Schließlich zwang er sich mitzulachen.
Lothario blickte Brynn verschmitzt an. »Nach was steht dir der Sinn, zarte Maid? Wollen wir erkunden?«, fragte er.
Brynn nickte, und Wex fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, das sie dem gutaussehenden Offizier abschlagen würde.
»Siehst du, Fret, auch das Mädchen will auf Erkundung gehen. Sie hat keine Angst vor Eichhörnchen. Du etwa?«
»Habe ich nicht«, erwiderte er, diesmal mit einem echten Lächeln auf den Lippen. Lothario hatte gewonnen.
»Dann ist es also beschlossen. Keine Besprechungen, keine neuen Befehle, und unser Fretter hat wieder einmal gezeigt, dass in diesem steifen Wams doch ein echter Mann steckt!«
Die Soldaten lachten und jubelten, und einer von ihnen schlug Fretter sogar auf den Rücken. Selbst Pinch musste grinsen. Nur Kraven schien etwas zu bedrücken.
Wex war erstaunt, wie geschickt Lothario seinen zweiten Hauptmann rehabilitiert hatte, nachdem er ihn erst vor aller Augen lächerlich gemacht hatte. Lothario war ein guter Offizier, ein sehr guter sogar. So gut, dass es selbst Brynn auffiel, was Wex wiederum gar nicht gefiel.
»Ich bin jetzt ein echter Kartograph«, flüsterte er ihr in dem Versuch zu, Brynn zu beeindrucken.
Doch da brüllte Lothario bereits, die Hand in Richtung des neuen Gipfels ausgestreckt: »Kommt! Folgt mir, und lasst uns herausfinden, was der Schweinehirte gezeichnet hat!«
9
Die Schwärze spuckte Vill Magnan unvermittelt auf den Waldboden. Keuchend lag er da und blutete aus zwei punktförmigen Wunden im Oberschenkel. Er befühlte das verletzte Bein und zuckte zusammen. Die Wunden hatten sich kein bisschen verändert, seit er verschlungen worden war.
Vill wusste nicht, wie viel Zeit er im dunklen Schoß des Schleiers verbracht hatte, gefangen, mitten auf der Flucht vor Krysts Söldnern. Tage? Jahre? Ganze Jahrzehnte? Die Zeit hatte jegliche Bedeutung verloren, während er traumgleich dahingetrieben war. Dunkle Fantasien waren über ihn gekommen und wieder verschwunden, manche davon seine eigenen, andere Alpträume, die nicht von
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