Die Karte der Welt (German Edition)
presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder dem nebligen Pfad vor ihnen zu. Wex konnte deutlich erkennen, wie sehr Pinch sie getroffen hatte. Was immer der Dieb meinte, es war nicht nett gewesen und rührte an eine tiefe, offene Wunde. Wenn er ein Porträt von Cirilla zeichnen könnte, würde ihr Gesicht die Wahrheit preisgeben. Sie stand in den Falten und Schatten um ihre Augen herum geschrieben. Aber Wex war miserabel, wenn es darum ging, Menschen zu zeichnen. Er konnte die Umrisse wiedergeben und mit Schattierungen versehen, aber noch nie war es ihm gelungen, auf dem Pergament die Essenz seines Gegenübers herauszuarbeiten, nicht so, wie ihm das bei Landschaften gelang. Wenn er hinaus in die Lande blickte, war er in seinem Element; ganz anders, als wenn er versuchte, aus einem Menschen schlau zu werden.
»Halt!«, rief Fretter von der Spitze des Trosses.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Pinch unvermittelt.
»Wieso? Er hat doch nur ›Halt‹ gesagt«, erwiderte Wex.
»Der Ton sagt mehr als die Worte«, meldete sich Cirilla zu Wort.
»Ja«, stimmte Arkh zu. »Und Fretters Ton sagt mir, dass es ein Problem gibt.«
Als sie die Spitze der Gruppe erreichten, sahen sie es: Hinter dem sich lichtenden Nebel kam der Schleier wieder zum Vorschein. Er umfasste den Berg wie ein erhabener Burggraben.
»Wir sitzen in der Falle, hab ich recht?«, fragte Kraven.
Fretter drehte verzweifelt den Kopf von links nach rechts, auf der Suche nach einem Pfad, der nicht in der schwarzen Wand vor ihnen endete, doch es war umsonst. Die Winsters brummten einander etwas zu, und auf dem Gesicht des jungen Spärling machte sich erneut Verzweiflung breit. Selbst Poppy, der resolute Koch, sah vollkommen niedergeschlagen aus.
Wex blickte zu Brynn hinüber. Ihre Panik hatte sich gelegt. Sie war in eine Art stummer Wachsamkeit verfallen und bewegte sich nur noch zwischen den beiden Winsters, wo sie sich anscheinend am sichersten fühlte.
»Der Schleier umschließt den Berg«, erklärte Fretter überflüssigerweise, denn das hatten mittlerweile alle begriffen. »Es führt kein Weg hindurch.« Und noch während der zweite Hauptmann über ihre verzweifelte Lage nachdachte, glaubte Wex zu erkennen, wie seine Entschlossenheit unter den verzweifelten Blicken der überlebenden Expeditionsmitglieder zu bröckeln begann. Unwillkürlich bewegten sich seine Finger zu der Rolle mit der Karte auf seinem Rücken.
»Hinter dem Gipfel geht schon die Sonne unter«, merkte Pinch an.
Die Aussicht auf den baldigen Anbruch der Nacht entsetzte sie alle.
»Was sollen wir bloß tun?«, wimmerte Spärling. »Die Schimmelbrüder werden uns kriegen!«
»Wenn du weiter rumheulst wie ein Kind, ganz bestimmt«, fauchte Cirilla ihn an.
Arkh legte Wex eine Hand auf die Schulter. Der furchterregende Krieger war auffällig still gewesen, als hätte er seit der Höhle nichts anderes getan, als über ihre Lage nachzudenken.
»Wexford hat den Schleier schon zuvor versetzt. Es könnte ihm ein weiteres Mal gelingen.«
»Wir sollten das Böse nicht erneut herausfordern«, warnte Curdwell. »Und lassen wir uns jetzt schon von einer Missgeburt Ratschläge erteilen?«, fragte er Fretter mit provozierendem Unterton. Die anderen Soldaten warteten gespannt die Reaktion des Offiziers ab.
Fretter überlegte einen Moment, dann erwiderte er: »Ich werde mir jeden Rat anhören, solange er gut ist.«
Und plötzlich schien jeder zu wissen, was zu tun war. Wex konnte kaum folgen, denn alle redeten gleichzeitig auf Fretter ein. Der ältere Winster schlug mit stolzgeschwellter Brust und einem Auge verstohlen auf Brynn gerichtet vor, hier die Stellung zu halten und zu kämpfen – aber erst nachdem klar war, dass sie genau das nicht tun würden. Spärlings Vorschlag, sich in den Bäumen zu verstecken, fand ebenso wenig Zuspruch. Keiner aus der Gruppe wollte auf einem Ast kauernd ausharren in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Und obwohl die Ungeheuer ihnen dicht auf den Fersen waren, verfiel keiner auf die Idee, es mit einer Flucht in den Schleier zu versuchen. Zum Kraterrand zurückzukehren und zu versuchen, ihnen dort zu entkommen, kam ebenfalls nicht in Frage, denn zu viele von ihnen waren immer noch geschwächt. Kraven sagte überhaupt nichts und dachte nach, was Wex zutiefst beunruhigte, denn wenn er irgendeine Möglichkeit zur Flucht sähe, hätte er sie längst kundgetan. Fretter hörte sich alles an, ernst und konzentriert, und als die Vorschläge allmählich
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