Die Karte der Welt (German Edition)
schwer vorstellen konnte.
Die Furcht, dass die Schimmelbrüder sie jeden Moment einholen könnten, trieb sie eilig voran. Niemand wollte am Ende der Gruppe laufen, also gingen sie in einer eng zusammengedrängten Traube, die Hände auf den Griffen ihrer Schwerter. Der dichter werdende Wald beschränkte die Sichtweite in jede Richtung auf kaum fünf Meter. Sie gingen bergab zu der Stelle, wo Wex den Pfad eingezeichnet hatte.
Bald hatten sie den kleinen Fluss gefunden und folgten seinem Verlauf. Als sie nach etwa zwei Furchenlängen eine freie Fläche erreichten, war der Blick endlich frei auf die darunterliegenden Hänge, und Wex’ Herz machte einen Satz: keine schwarze Wand, so weit er sehen konnte.
Fretter drehte sich um und sagte mit gedämpfter, hoffnungsvoller Stimme: »Der Schleier wurde versetzt. Es scheint, der Junge hat es geschafft!«
Er bedeutete der Gruppe, sich leise zu verhalten und nicht in Jubel auszubrechen, aber die Erleichterung auf den Gesichtern war überdeutlich. Mungo klopfte Wex auf den Rücken, und Cirilla umarmte ihn, wenn auch nur seine Beine. Selbst Kraven lächelte ihm anerkennend zu, blickte aber weiterhin immer wieder nervös über die Schulter und achtete darauf, dass er sich stets zwischen Curdwell und Poppy, den beiden kräftigsten Männern, aufhielt. Brynn beobachtete stumm die Lobbekundungen, und als Wex ihren Blick auffing, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihm wenigstens zuzunicken. Alles in allem schien sein Ruf zumindest ein Stück weit wiederhergestellt, und Wex lächelte. Es war das erste Mal, seit sie in den Krater hinabgestiegen waren, und Wex konnte nicht sagen, ob es am Gelingen seiner Zeichnung lag oder an Brynns Blick. Wahrscheinlich an beidem.
Ein breiter Fluss gesellte sich zu dem kleinen Wasserlauf und ließ ihn zu einem unüberwindbaren Strom anschwellen. Eingekeilt zwischen den Felswänden schoss das Wasser dahin und bildete Schaum auf den hellgrünen Wellen. Der Fluss sah genau aus, wie Wex ihn gezeichnet hatte, jede einzelne Biegung.
»Unheimlich«, sagte Poppy.
»Unnatürlich«, knurrte der ältere Winster.
»Trinkt«, befahl Fretter. »Und füllt alle Wasserschläuche, die wir haben.«
Wex’ Kehle war wie ausgetrocknet, und er eilte mit dem Rest der Gruppe ans Ufer des Flusses. Endlich , dachte er, ein bisschen Glück .
Der jüngere Winster sah sie zuerst. Es war nur ein Rascheln im Unterholz, fünf oder sechs Furchenlängen höher bergan. Dann folgte das unverkennbare Echo aufgeregter, kehliger Laute.
»Schimmelbrüder!«, rief er. »Sie kommen schnell näher.«
»Sie folgen unserer Spur«, erklärte Arkh.
Die Soldaten wandten sich Fretter zu und erwarteten seine Befehle, aber Pinch watete bereits durchs Wasser.
»Kommt«, sagte er leise und winkte den anderen. »Folgt mir.«
»In den sicheren Tod?«, erwiderte Fretter. »Versuchst du, uns umzubringen?«
Pinchs Augen wurden schmal. »Könnt Ihr etwa nicht schwimmen?«
Fretter sah empört aus. »Warum sollte ich? Wir sind kein Seefahrervolk.«
Pinch schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer noch?«
Eisiges Schweigen. Mungo war der Einzige, der sich außer ihm in den Fluss wagte, alle anderen rührten sich nicht.
Schließlich trat Brynn einen Schritt vor. »Ich habe einmal einen Sommer am See von Herzog Hynde verbracht, zusammen mit seiner Tochter Alta. Ich kann paddeln und mich über Wasser halten.« Es waren ihre ersten Worte, seit sie am Fuß der Eidechsenwand in Panik verfallen war. Sie blickte Wex fest in die Augen. »Und ich bin kein dummes Frauenzimmer.«
Aber der Fluss war kein ruhiger See. Mit beträchtlicher Geschwindigkeit schoss er an ihnen vorbei, gurgelnd wie ein hungriger Schlund, der nur darauf wartete, sie zu verschlingen.
Als Mungo sah, dass keiner der anderen folgte, kam er wieder aus dem Wasser, packte einen umgestürzten Baumstamm und stapfte brummend damit zurück in die Strömung.
»Watet in den Fluss und haltet euch an dem Baum fest«, übersetzte Pinch. »Sonst gehen wir ohne euch.«
Immer noch zögerten sie. Die Angst zu ertrinken war beinahe genauso groß wie die Furcht vor der blutrünstigen Horde hinter ihnen. Mit angehaltenem Atem standen sie da, unfähig sich zu bewegen.
»Er hat recht«, rief Brynn. Jeder hatte sie gehört, und zu Wex’ Überraschung hörten sie auf ihr Wort. Brynn hatte ihr Vertrauen, ganz im Gegensatz zu den Verbrechern. »Auf diese Weise hinterlassen wir keine Spuren mehr, und außerdem sind wir schneller als zu Fuß an
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