Die Karte der Welt (German Edition)
Zeichen geben konnte, tastete sich Wex auf einem der Äste vor. Der Ast war so dick, dass er bequem darauf hätte balancieren können, aber Wex zog es vor, bäuchlings darauf entlangzurobben.
Das war der Moment, in dem er den Schatz entdeckte.
Offen und ungeschützt lag er in einer Art Nest, das aus Lehm und abgebrochenen Ästen zu bestehen schien. Oder waren es eher Baumstämme? Immerhin waren sie so dick wie Wex’ Oberschenkel. Er fragte sich, welche Vogelart kräftig genug war, sie hier heraufzuschleppen und zu einem Nest zusammenzufügen. Zu einem Nest von einem Durchmesser, der der Länge von drei ausgewachsenen Männern entsprach.
Was für ein Verhau , dachte Wex. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein. Alles Mögliche lag darin kreuz und quer, als wäre es achtlos hineingeworfen worden. Wex konnte nichts Wertvolles entdecken. Nur seltsam verdreht gewachsene Zweige, wertlose Steine und anderes Zeug, das er nicht identifizieren konnte. Aus den paar Tierhäuten, die er entdeckte, ließe sich vielleicht Kleidung machen, aber sie schienen nicht besonders gut gegerbt zu sein, und manche faulten sogar schon. Ein eigenartiges Sammelsurium, fand er, eher das Diebesgut einer Elster als ein von Menschen angelegtes Versteck. Vielleicht würde er unter all dem Müll etwas finden, wenn er nur genau genug suchte.
Wex robbte weiter. Irgendwie hatte er das Gefühl, er könnte die Wärme der Rinde auf seiner Haut spüren und sogar den Puls des riesigen Baums.
Dann bewegte er sich.
Fast wäre Wex von dem Ast gefallen. Mit verzweifeltem Griff konnte er sich gerade noch an zwei Blättern festhalten, die zu seiner großen Überraschung weder ein- noch abrissen und ihn so vor dem Fallen bewahrten. Sie waren fest und dick wie Leder und schmiegten sich so eng an den Ast wie Efeu.
Das ganze Blätterdach geriet jetzt in Bewegung, löste sich vom x-förmigen Stamm wie ein perfekt getarnter Vogel aus einem Gebüsch. Ein gigantischer, keilförmiger Kopf glitt zwischen den Ästen hervor. Er wandte sich in Wex’ Richtung und öffnete die melonengroßen Augen.
24
Vill versammelte seine Truppen, einhundert Düsterlinge, aufgeteilt in zehn Zehnergruppen. Das Unterkommando hatte er den physisch kräftigsten Exemplaren in jedem Zehnertrupp übertragen. Die klügsten wären ihm lieber gewesen, aber die kräftigen sprachen eher auf Vills Konzept von Führung durch Stärke an. Die beiden allerstärksten behielt er ständig an seiner Seite. Nach dem Merkmal, das sie jeweils besonders auszeichnete, hatte er ihnen die Namen »Narbe« und »Schnüffler« gegeben. Sein Kontingent wurde immer größer, je weiter sich die Kunde verbreitete. Ganze Sippen hatten sich Vill angeschlossen, und neugierige Einzelgänger kamen angelaufen, wann immer sie von den gemeinsamen Jagden hörten oder das frische Fleisch witterten. Vill hatte herausgefunden, dass die Düsterlinge, die durch die Wälder oberhalb der vierten großen Flussbiegung streiften, sich selten zu größeren Gruppen zusammenfanden. Die Größe blieb meist auf die Anzahl beschränkt, die ein einzelner Düsterling aufgrund seiner überlegenen Körperkraft unterwerfen konnte. Die Gruppe, die Vill gefunden hatte, war eine der größten außerhalb ihrer angestammten Heimat weiter flussabwärts.
Die Erwachsenen und die Kampftauglichen hatte Vill seinen Truppen zugeteilt. Für die Jungen und die Betreuer hatte er ein Lager errichten lassen. Die Unterkünfte, so einfach sie auch waren, stellten alles in den Schatten, was die Düsterlinge je selbst erschaffen hatten, und sie waren entsprechend beeindruckt. Leicht beeindruckt vor allem, wie Vill feststellte. Und erfreut. Wann immer er sich unter ihnen bewegte, scharten sie sich um ihn und schnatterten aufgeregt.
Er unterwies sie im Sammeln von brauchbaren Ausgangsmaterialien und in der Herstellung von Werkzeugen, beglückte sie mit der Kunst des Bogenschießens, dem Rad und Speeren mit Steinspitze. Die ein Stück weit vom Lager entfernten Latrinengräben waren eine willkommene Verbesserung, für Vill genauso wie für seine neuen Untertanen. Und wann immer er Feuer machte, feierten sie ihn wie einen leibhaftigen Magier. Sie hatten zwar schon öfter gesehen, wie das verhasste, köstlich schmeckende Flussvolk Flammen benutzte, aber die tumben Düsterlinge hatten nie begriffen, dass Feuer etwas war, das man selbst herstellen konnte. Stets hatten sie es wahlweise für ein Naturphänomen, einen Zauber oder den Zeitvertreib einer Tiergottheit gehalten. Als
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