Die Karte der Welt (German Edition)
er den Schuppenpanzer ursprünglich für Blätter gehalten hatte. Trotzdem machten die Zähne den Eindruck, als könnten sie ihn mit einem einzigen Biss zermalmen.
»Ruhig …?«, erwiderte eine donnernde Stimme.
Wex’ Augenbrauen schossen nach oben. Im ersten Moment glaubte er, seine eigenen Worte wären von dem riesigen Rachen als Echo zurückgeworfen worden. Aber dafür klang die Stimme viel zu tief, und auch der Tonfall war ein anderer. Vielleicht hatte das Geschöpf ja die Laute imitiert, die Wex von sich gegeben hatte. Manche Vogelarten machten das so.
»Runter«, sagte Wex sanft. »Ich werde jetzt runterklettern. Ganz langsam.«
»Bleib«, ertönte die Stimme wieder, diesmal klar und deutlich. Kein Zweifel, es war kein Echo.
»Richtig. Wahrscheinlich könnte ich genauso gut bleiben«, räumte Wex ein. »Für den Moment zumindest.«
Der Riesenkopf schwang auf einem schlangenartigen Hals um Wex herum und begutachtete ihn aus allen Richtungen.
»Du wirst mich doch nicht fressen, oder?«, fragte Wex.
»Weiß ich noch nicht. Schmeckst du gut?«
»Nein«, erwiderte Wex hastig, obwohl er eigentlich gar nicht wusste, ob er gut schmeckte oder nicht.
»Gibt es noch mehr von dir?«
»Nein«, antwortete Wex, um seine Freunde nicht in Gefahr zu bringen.
»Gut, denn größere Gruppen von Menschen können äußerst lästig sein. Sie haben die unangenehme Angewohnheit, sich zusammenzurotten und einen anzugreifen, selbst wenn man nur einen von ihnen gefressen hat. Sinnlos, aber lästig.« Die Kreatur biss einen Ast ab, der so dick war wie ein Bein, und begann darauf herumzukauen, um ihre Zähne zu schärfen.
»Ich meinte, ich bin allein auf diesem Baum «, korrigierte sich Wex. »Aber ganz in der Nähe gibt es noch jede Menge von mir. Und sie warten auf mich. Wenn ich gefressen werde, greifen sie ganz bestimmt an.«
»Der eine da unten stellt keine sonderliche Bedrohung dar«, erwiderte das Geschöpf. »Ich kann ihn mir jederzeit schnappen.« Es streckte das Haupt nach oben und spähte hinaus ins Tal. »Ah, da sind ja die anderen«, polterte es. »Ja, die könnten lästig werden, fürchte ich.«
»Du wirst mich also nicht fressen?«
»Zu viel Ärger. Wenn nur einer von euch entwischt und mit einer ganzen Rotte zurückkommt – welch unausdenkliche Unannehmlichkeit! Das Flussvolk macht so was ständig, dabei verspeise ich ihresgleichen gar nicht. Genauso wenig wie die Fauligen oben auf dem Vulkan. Manchmal pirsche ich mich hinauf und stehle eins von ihren Opfern vom Altar, das heißt, wenn es nicht schon am Verwesen ist, aber sie sind mir auf die Schliche gekommen und stellen neuerdings Wachposten auf. Das kleine Volk, das in Richtung des Sonnenuntergangs lebt, ist der Mühe kaum wert, und sie sind flink, die kleinen Biester, schwer zu erwischen. Ein verirrter Düsterling ist da schon besser. Die sind groß und ergiebig. Ungeschickt wie Wolfswelpen tapsen sie umher und sind zu blöd, auch nur einen Stein nach mir zu werfen.«
Wex atmete erst einmal erleichtert auf. Allerdings bestand jetzt, da das Ding sich bewegte, nicht mehr die geringste Möglichkeit, an ihm herunterzuklettern. Wex wagte nicht, um Erlaubnis zu fragen, sich zu entfernen, weil er Angst hatte, die Kreatur könnte es sich dann anders überlegen und ihn doch noch verschlingen. »Wer beim Essen spricht, verpasst die Mahlzeit«, sagte sein Vater immer, also versuchte Wex, das gefräßige Vieh möglichst tief ins Gespräch zu verwickeln.
»Bist du ein Teil dieses Baums?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte das Wesen, begleitet von einem Laut, der wie ein Lachen klang. »Der Baum ist der Baum, und ich bin ich.«
»Dann bist du so etwas wie ein übergroßer Vogel?«
»Kein Vogel. Vögel haben keine Zähne.« Stolz zeigte das Ungeheuer sein Raubtiergebiss. »Und auch kein Rieseneichhörnchen.«
»Ein Drache?«
»Ich würde mich selbst nicht so nennen, aber du darfst es, wenn du willst. Jene, die mich gesehen und die Begegnung überlebt haben, nennen mich bei allen möglichen fantasievollen Namen.«
»Und mit deinen großen Flügeln kannst du von einem Ort zum andern fliegen, richtig?«
»Dorthin, wo Bäume wie dieser wachsen, ja. Unglücklicherweise existieren nur noch wenige, und dann war da noch dieser ärgerliche und völlig unzeitige Nachteinbruch, der meinen Horst im Süden verschlungen hat. Bislang habe ich beschlossen, mich von dieser Dunkelheit fernzuhalten. Sie riecht nicht gut. Ich hoffe, die Sonne wird sie bald verscheuchen, auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher