Die Karte Des Himmels
darüber hinwegzusehen.«
»Aber du wirst das wohl nicht in deinem Artikel für das Magazin über Esther schreiben. Das kannst du nicht machen.«
»Natürlich nicht. Abgesehen von der Frage nach historischen Beweisen wäre es Summer gegenüber nicht fair. Aber vielleicht, nur vielleicht können wir das alles als Hypothese nehmen, die uns irgendwann zu harten Fakten führt. Lass uns davon ausgehen, dass Esther entkommen ist. Es leuchtet doch ein, dass sie mit Rowan und deren Familie weggezogen ist. Besonders, weil Alicia sie aus dem Testament ihres Vaters ausgeschlossen hat und Esther um ihr Leben fürchten musste.«
»›Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho!‹«, sang Euan leise. »Nein, Jude, ich mache mich nicht über dich lustig. Es hört sich so, ich weiß nicht, romantisch an, das ist alles. Kannst du dir vorstellen, dein Leben auf der Straße zu verbringen, nachdem du die Tochter in einem vornehmen Haus gewesen bist?«
»Es wäre unglaublich hart für sie gewesen.«
»Also hat sie vielleicht auch etwas anderes gemacht, aber ich habe keine Ahnung, wie wir das herausfinden sollen.«
»Ich im Moment auch nicht.«
Beide schwiegen, in ihre Gedanken versunken.
Euan schaute auf seine Uhr. »Wann müssen wir Mrs. Catchpole abholen?«
»Gran? Gleich nach dem Mittagessen. Es ist wirklich freundlich von den Wickhams, uns alle einzuladen.«
»Bei deiner Gran wäre es ziemlich eng geworden. Außerdem hast du recht, es ist angemessen, weil die ganze Geschichte sich schließlich in Starbrough Hall abgespielt hat. Aber möchtest du wirklich, dass ich mich auch noch dazwischenquetsche?«
»Natürlich«, sagte Jude und legte die Hand auf seinen Arm, »irgendwie gehörst du doch dazu.«
»Weißt du was?«, erwiderte er lächelnd. »Das Gefühl habe ich langsam auch.«
Sie sieht aus wie ein nervöses kleines Kind, dachte Jude, als sie ihre Gran im Salon in dem riesigen, mit Kissen ausgepolsterten Armsessel sitzen sah. Chantal benahm sich überaus charmant, schenkte Tee in hübsche Porzellantassen, und sogar Miffy zeigte ihr bestes Benehmen, als sie zu Gran hinüberlief und ihren warmen Hundekörper an ihre Beine presste.
»Wann kommen sie denn?«, erkundigte Gran sich zum dritten Mal und drehte besorgt an ihrem abgegriffenen Ehering.
»Jeden Augenblick«, antwortete Jude, und Euan, der am Fenster stand, fügte hinzu: »Da sind sie schon!« Jons blauer Sportwagen rollte die Auffahrt hinauf, und ein paar Minuten lang herrschte ein wüstes Durcheinander, weil die Zwillinge die Setter herausgelassen hatten und Summer Angst hatte, aus dem Wagen zu steigen. Aber Robert schnappte sich einen Hund, und ein gepflegter, leicht übergewichtiger Mann, der nur Jons Vater sein konnte, stieg aus und packte das andere Tier, sodass Claire und Summer den Rücksitz verlassen konnten. Jon holte eine Tragetasche aus dem Kofferraum und reichte sie seinem Vater. Dann wurde die Tür an der Front von Starbrough Hall geöffnet, wie es dem besonderen Anlass angemessen war. Würdevoll wie eine Schlossherrin, die sie ja tatsächlich auch war, schritt Alexia die Treppe hinunter und bat ihre Gäste ins Haus.
Frank und Jon wurden Gran vorgestellt, die, als nun endlich alle anwesend waren, ihre Nervosität abgelegt hatte und die Leute begrüßte wie eine Königin. Chantal ließ Frank auf dem Stuhl neben Gran Platz nehmen. Während Alexia verschwand, um Summer das Spielzimmer der Zwillinge zu zeigen, versuchten die Erwachsenen, das Gespräch in Gang zu bringen, das Gran über so viele Jahre lang so dringend gebraucht hätte. Sie erfuhren, dass Frank als Fahrer für eine große Autowerkstatt mit Ausstellungsräumen in Yarmouth arbeitete. Er war ein ruhiger Mann mit sehr lebhaften Augen – genau wie Tamsins, sagte Gran plötzlich an einer Stelle des Gesprächs. »Ich kann sie in Ihnen erkennen.« Die beiden schienen sich an denselben Orten auszukennen, sich an dieselben Veranstaltungen in der Gegend zu erinnern und an dieselben bekannten Leute. Jude merkte, wie stolz er auf Jon war.
Es gelang ihr, die einzelnen Fäden der Familiengeschichte miteinander zu verflechten. Franks Frau hatte ihn verlassen, als Jon dreizehn gewesen war. Zu der Zeit hatte Frank keinen Job gehabt und alles schleifen lassen. Jon hatte die Schule mit einem armseligen Abschluss verlassen. Als er mit Ende zwanzig Claire begegnet war, hatte er in mehreren Bands gespielt – erfolglos – und ließ sich durchs Leben treiben. Ein paar Jahre später hatte sich ihm eine
Weitere Kostenlose Bücher