Die Karte Des Himmels
Norfolk. Dad wollte dir keinen Antwortbrief schicken, der dort vielleicht gar nicht ankommt. Und weil er oben in Sheringham wohnt und ich einen Tag Urlaub hatte, habe ich ihm gesagt, dass ich in Starbrough Hall vorbeischauen würde. Hier ist der Brief.«
Er reichte Jude einen weißen Umschlag, auf dem ihr Name stand. Sie öffnete den Brief, las ihn und verfiel in tiefes Nachdenken.
»Lass mich auch mal sehen«, sagte Claire, und Jude gab ihr den Brief.
Sehr geehrte Miss oder Mrs. Gower,
ich habe den Brief gelesen, in dem Sie nach Tamsin Lovall fragen. So lautete der Name meiner Mutter, bevor sie geheiratet hat. Sie hat immer gesagt, dass sie eine Roma sei, und im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren ist sie meinem Vater in Great Yarmouth begegnet, wohin sie im Krieg gegangen war, um Krankenschwester zu werden. Er war bei der Marine. Sie haben sich beim Tanzen kennengelernt und kurz darauf geheiratet, ich glaube, ich war schon unterwegs. Zu ihrer Familie ist sie nie zurückgekehrt. Ich nehme an, dass sie sich mit ihr wegen der Krankenpflege zerstritten hatte. Sie hatte drei Kinder, meinen Bruder, meine Schwester und mich. Traurigerweise ist sie 1980 gestorben, an Krebs, kurz vor ihrem siebenundfünfzigsten Geburtstag. Mein Vater George starb 1999. Ich fürchte, ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals ein Wort über Ihre Großmutter verloren hat; aber sie hat überhaupt nur selten über ihre Kindheit gesprochen. Ich nehme an, sie wollte verhindern, dass die Leute etwas über ihre Abkunft aus einer Zigeunerfamilie erfahren und dann glauben, sie sei irgendwie anders. Sie war eine zurückhaltende Frau, die es nie geschätzt hat, in irgendeiner Weise aus der Menge herauszustechen. Ich wäre jedoch daran interessiert, jemanden kennenzulernen, der weiß, wie sie als Kind gewesen ist. Bitte scheuen Sie sich nicht, mit mir in Verbindung zu treten.
Mit herzlichen Grüßen, Ihr
Frank Thetford
Claire gab Jude den Brief zurück. »Ich bin völlig durcheinander«, sagte sie. »Wer ist George, wer ist Frank?«
»George war mein Großvater. Der Mann, der Tamsin geheiratet hat. Frank ist mein Dad.«
»Und du bist ihr Enkel.«
»Was zu bedeuten hat«, sagte Jude und sprach es endlich aus, »dass Summer niemand anders ist als Tamsins Urenkelin. Jessies und Tamsins Urenkelin. Du lieber Himmel!«
»Und du bist gerade im rechten Moment aufgetaucht, um Summer zu retten.«
Die Zufälle fügten sich auf so erstaunliche Weise zusammen, dass sie alle einfach nur im Garten standen und einander anstarrten.
Als Jude später nach Starbrough Hall zurückfuhr, sehnte sie sich nach ihrem Bett. Trotzdem hielt sie kurz an, als sie das Cottage des Jagdaufsehers erreichte, weil sie dachte, sie sollte vielleicht aussteigen und Euan helfen, mit dem ganzen Durcheinander zurechtzukommen. Aber es standen keine Autos vor dem Haus, auch nicht Euans Wagen. Sie klopfte an die Tür, aber niemand öffnete. Sie ging an den Tieren vorbei zur Wiese. Das Zelt war verschwunden und der Wohnwagen verschlossen. Von Euan keine Spur. Plötzlich fühlte Jude sich sehr traurig und allein. Sie ging zu ihrem Wagen zurück und fuhr weiter.
Am nächsten Morgen war Jude gerade dabei, Chantal zu erzählen, was alles geschehen war, als ihr Telefon klingelte. Die Frau aus dem Juwelierladen in Norwich rief an, um ihr zu sagen, dass die Halskette fertig war.
»Das Stück stammt mit Sicherheit aus der Zeit um 1760«, erklärte die Juwelierin, als Jude den Schmuck später abholte. »Und unser Rechercheur konnte den Stempel des Goldschmieds bis zu einem Laden in Hatton Garden zurückverfolgen. Vollständig und in gutem Zustand ist ein solches Stück sehr wertvoll, oh, bestimmt etwa neun- oder zehntausend Pfund, aber jetzt gewiss nicht mehr als fünftausend. Ich habe Ihnen ein Schreiben beigelegt, in dem ich Ihnen alles erkläre. Wir sind in der Lage, für die Anfertigung eines Ersatzsterns zu sorgen, falls Sie sich dazu entscheiden.«
»Erstaunlicherweise haben wir den fehlenden Stern gefunden«, erklärte Jude der Juwelierin. In dem Traumfetzen, der ihr durch den Kopf schwebte, funkelte ein kleiner Stern im frischen weißen Schnee.
»Oh, das ist wunderbar! Das verleiht der Halskette natürlich einen zusätzlichen Wert. Vielleicht möchten Sie das aufgefundene Stück vorbeibringen? Es wäre uns eine Ehre, die Reparatur vorzunehmen. Es ist wirklich ein sehr hübsches Stück.«
»Ja, nicht?«, sagte Jude und zog ihr Portemonnaie aus der Tasche, um zu zahlen.
Weitere Kostenlose Bücher