Die Karte Des Himmels
Blätter waren herausgerissen worden. Die verbleibenden zwei Drittel waren vollständig in der neuen Handschrift beschrieben. Als Jude zur ersten Seite blätterte, las sie, dass der erste Eintrag vom 10. März 1778 stammte. Das hieß, dass der Band zeitlich auf die anderen folgte. Wie konnte es sein, dass sie das Buch vorher nicht bemerkt hatte? Als sie zu lesen anfing, wuchs ihr Erstaunen.
Vater wünscht, dass ich fortfahre, dass ich die neuen Nebulae und die Doppelsterne aufzeichne, jetzt wo er selbst es nicht mehr kann. Es ist eine schwere Bürde, die auf mir lastet, aber ich werde mich bemühen, seinen Wünschen mit allen Fähigkeiten, mit allem Geschick und aller Meisterschaft nachzukommen, die er mich gelehrt hat. Ich will ihn nicht enttäuschen, wenngleich die Nächte kalt und einsam sind. Er konnte zumindest auf meine Hilfe zählen. Ich hingegen habe niemanden und muss häufig einen Atlas konsultieren, sodass viel Zeit verloren geht.
4.30 in der Frühe, als der Mond sich im Ursa Major dem Horizont näherte, sah ich Bodes Nebula, rund mit einem dichten, helleren Kern.
Jude hielt kurz inne. »Mein Vater ...« Der zweite Verfasser war also Wickhams Sohn. Und wer war dieser Sohn? Sie würde Chantal fragen müssen. War Wickham gestorben oder fortgegangen oder aus irgendwelchen Gründen verhindert? All das musste sie herausfinden und in den Katalog aufnehmen. Sie las weiter.
24. März
Früher Abend. Heute kein Mond. Reglose Luft. In Taurus nahe Tau Tauri auf 15 Grad eine neue Sternwolke oder vielleicht ein Komet.
Der Schreiber des Tagebuchs erwähnte das neue Objekt in mehreren folgenden Einträgen und entschied, dass es sich bewegte. Anfang April notierte er: Gesichtet mit Vergrößerung 278, hell und klar umrissen. Wahrscheinlich ein Komet. Bisher keine Erwähnung in Vaters Aufzeichnungen .
Es sah aus, als hätte er die Beobachtung letztlich als Komet beurteilt, obwohl ihm offenbar Zweifel geblieben waren.
Danach fanden sich lange Lücken zwischen den Tagebuchnotizen und nur wenige Einträge persönlicher Natur. Der Schreiber erwähnte eine partielle Mondfinsternis, einen neuen Nebel und, spürbar aufgeregt, einen möglichen Doppelstern, den der alte Wickham jahrelang verfolgt haben musste.
Jude schloss ihre Notizen ab und wollte das Buch gerade in den Schrank zurücklegen, als Chantal hereinkam.
»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte sie. »Ich wollte nur kurz nachsehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen.«
»Mir geht es ganz ausgezeichnet. Und genau Sie brauche ich jetzt«, erklärte Jude. »Ich habe noch ein Tagebuch gefunden, hier, schauen Sie, und ich würde gern Anthony Wickhams Lebensdaten mit Ihnen überprüfen. Und die seiner Kinder.«
»Natürlich«, sagte Chantal, nahm das Tagebuch und untersuchte es. »Was für ein Jammer, dass es beschädigt ist. Wer kann das nur getan haben? Ja, ich mache mich auf die Suche nach den Daten, die Sie benötigen. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass er keine Kinder hatte. Jedenfalls nicht, soweit wir wissen. Oder dass er gar verheiratet war. Die Besitzungen sind auf seinen Neffen übergangen, auf einen Mann, der Pilkington hieß, seinen Namen dann aber in Wickham geändert hat.«
Jude starrte sie verwirrt an. »Und wer ist dann der Mann, der Anthony Wickham in diesen Blättern ›Vater‹ nennt?«
»Ich habe keine Ahnung. Am besten, ich suche oben nach dem Familienstammbaum, wenn Sie nichts dagegen haben, eine Weile zu warten. Aber nun muss ich mich wirklich beeilen. Letzte Nacht hatte ich solche Zahnschmerzen ...«
»Oh, das tut mir leid.«
»Der Zahnarzt hat gesagt, ich solle sofort in die Praxis kommen. Halten Sie es ein oder zwei Stunden lang allein hier aus?«
»Bitte machen Sie sich um mich keine Sorgen«, sagte Jude. »Hier gibt es noch viel zu tun, das können Sie mir glauben. Viel Glück beim Zahnarzt.«
Als Chantal gegangen war, vertiefte Jude sich wieder in die Arbeit. Inzwischen war sie unten im Schrank angekommen; um sie herum verstreut lagen Bücher und Rollen mit Zeichnungen. Sie kniete sich wieder hin. Eingehend musterte sie das untere Regalbrett, für den Fall, dass sie etwas übersehen hatte, und bemerkte, dass der Schrank nicht besonders stabil gebaut war. An der Rückseite fehlte ein Stück Holz, und dahinter konnte sie erkennen, dass der Putz von der Wand bröckelte. Wirklich Putz? Jedenfalls war da irgendetwas. Sie griff hinein, stieß mit der Hand in ein Loch und fühlte Papier. Als sie es mit den Fingern umklammerte
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