Die Karte Des Himmels
Linsen für neue Teleskope zu schleifen. Diese Gerüchte beunruhigten mich, und ich machte mir Gedanken darüber, aber Susan hieß mich, sie als Geschwätz abzutun.
Die Wahrheit erfuhr ich erst, wie ich bereits erwähnte, als ich erwachsen war. Aber vielleicht hat Susan auch recht daran getan, bei ihrer Ansicht zu bleiben, solange ich klein war, und mir damit Sicherheit zu geben. Ich war ein nervöses Kind, anfällig für Albträume und unzählige Leiden. Ich klammerte mich an Susan, als wäre sie meine Mutter, und sie sich an mich, denn sie war nicht mit einem eigenen Kind gesegnet, nein, auch nicht mit einem Mann, der sie haben wollte, denn unser Schöpfer in seiner unendlichen Weisheit hatte beschlossen, sie hässlich zu erschaffen, indem er sie mit einem gewaltigen Körper und einem unsteten Auge versah, was das arme Geschöpf gegenüber dem starken Geschlecht schüchtern und unbeholfen werden ließ. Aber für mich war sie die liebenswerteste Frau auf Gottes Erden, denn solange ich ein Kind war, stand sie mir in jeder Lage bei, und ich wollte keine andere Mutter.
Susan war es, die mich tröstete, wenn ich nachts weinend aus meinem Traum erwachte. Es war immer derselbe Traum, dass ich einsam und verloren in der Dunkelheit umherwanderte, während die scharfen Klauen der Bäume sich ausstreckten, um mir das Gesicht zu zerkratzen oder mich zu Boden zu werfen. Die Schreie der wilden Tiere drangen von überall her, näher und immer näher, der Geruch nach verrottetem Laubwerk erfüllte meine Nasenlöcher. In den Nächten, in denen ich diesen Traum träumte, hatte ich Angst, wieder einzuschlafen. Dann schob Susan ihren gewaltigen Körper neben meinen und legte mich an ihren weichen Busen, bis ich, halb erstickt, ruhig wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie viel geschlafen hat in jenen Nächten, in denen meine Dämonen mich heimsuchten, aber niemals kam ihr eine Klage über die Lippen.
Jude beschlich ein Gefühl der Unwirklichkeit, als sie den Abschnitt noch einmal las. Der Traum des Mädchens war der gleiche, den sie selbst und Summer auch hatten. Wie war das möglich? Sie überlegte. Vielleicht hatte es etwas mit Starbrough Folly zu tun. Der Turm war von einer ganz besonderen Atmosphäre umgeben – ein verwunschener Ort, wenn man an solche Dinge glaubte –, aber das war keine Erklärung für Judes Träume. Soweit sie wusste, war sie in diesem Sommer zum ersten Mal dort gewesen. Vielleicht war es reiner Zufall. Träume, dass ein Mädchen durch einen dunklen Wald rannte und nach seiner Mutter rief, waren schließlich der uralte Stoff von Märchen – man musste nur an Schneewittchen und Rotkäppchen denken. Vielleicht hatten die Menschen, nachdem sie vor langer Zeit zu sesshaften Ackerbauern geworden waren, sich mehr und mehr vor den Wäldern zu fürchten begonnen, aus denen sie aufgetaucht waren. Das hatte sie jedenfalls irgendwo gelesen. Schließlich senkte sie den Blick wieder auf die blasse Schrift auf dem Papier und las weiter.
In jenen Tagen bestand meine Welt aus nichts als dem Kinderzimmer, der Küche und den Gärten rund um das Haus. Es war mir verboten, weiter als in den Park vorzudringen. Manchmal spielte ich mit den Kindern des Gärtners, Sam und Matt, die gern kletterten und rannten, wie es die Art der Jungen ist. Und so lernte ich ebenfalls zu rennen und zu klettern, und wenn ihre Spiele mir nicht zusagten, setzte ich mich für mich allein nieder und baute Nester aus Gras und Ästchen. Ich stellte mir vor, die kleinen Stöcke und Knochenstücke wären Menschen und Tiere. Einmal schenkte Susan mir ein paar Puppen, die aus Zapfen gefertigt und in Tuchfetzen gekleidet waren. Sie hatte sie einer Zigeunerin abgekauft.
Am 21. Juli 1768, meinem sechsten Geburtstag, rüttelte Susan mich frühmorgens ungewöhnlich aufgeregt wach. Als ich aufstand, entdeckte ich neben meinem Fenster ein zauberhaftes Puppenhaus, das mit ausgesuchten Möbeln bestückt war. »Es ist von deinem Vater«, erklärte Susan mir in ehrfurchtsvollem Ton. Sie erzählte, dass er bei einem Blick aus dem Fenster seines Zimmers gesehen habe, wie ich draußen mit meinen Stöckchen und dem Gras spielte. Wegen dieses Puppenhauses habe er den ganzen weiten Weg bis nach London geschickt. Es gab darin alles: zarte Puppen und fein gefertigte Möbel – die Fenster waren sogar mit kleinen Vorhängen versehen, wunderschön gearbeitet mit schmalen Schnüren – und hübsche Decken auf den Betten. Mein Vater erschien nicht im Kinderzimmer, um
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