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Die Kastratin

Die Kastratin

Titel: Die Kastratin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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polierten Edelstein. Nun war sie mehr denn je davon überzeugt, besser singen zu können als der von allen so hoch gelobte Ludovico, und empfand die Welt als ungerecht.
    Giulia wusste nicht, wie lange sie im Schatten der Mauer gesessen und dem Gesang der Chorknaben gelauscht hatte. Der Klang der Glocke von San Ippolito rief sie schließlich wieder in die Gegenwart zurück. Die Sänger wiederholten jetzt nur noch einzelne Teile der Messe, an deren Vortrag ihre Lehrer noch etwas auszusetzen hatten. Für Giulia wurde es nun langweilig, und sie huschte davon. Als sie auf Umwegen die Bleichwiese erreichte und von dort ins Städtchen zurückkehren wollte, stimmte sie unwillkürlich den ersten Teil von Ludovicos Sologesang an.
    Erschrocken schlug sie sich auf den Mund und sah sich um. Die Frauen, die vorhin noch hier gewesen waren, hatten inzwischen ihre Wäsche zusammengepackt und waren nach Saletto zurückgekehrt. Da sonst niemand hier war, schien die Gelegenheit günstig. Giulia zog sich in ein Gebüsch hinter ein paar Felsnadeln zurück, die neben dem Olivenhain aufragten, und stimmte mit verhaltener Stimme die Melodie der Messe an. Je länger sie sang, umso voller wurde ihre Stimme, bis sie schließlich mit aller Inbrunst erscholl.

IV .
    P ater Lorenzo hatte die Chorknaben in ihre Kammern zurückgeschickt und war mit Girolamo Fassi in den Klostergarten hinausgegangen, um noch etwas mit ihm zu besprechen. Eine Weile schlenderten sie schweigend unter den Spalierobstbäumen dahin. Dann seufzte der Chorleiter wie unter einer schweren Last. »Heute hat mir Ludovicos Vortrag nicht sonderlich gut gefallen. Einige seiner Töne kamen nicht völlig rein, und er lag auch ein paarmal arg daneben. Ich fürchte, es war ein schwerer Fehler, ihm den Solopart anzuvertrauen.«
    Fassi zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Das will ich nicht hoffen. Wir hatten doch keine andere Wahl, da Graf Gisiberto diese Gunst für seinen Liebling erbeten hatte und Abt Francesco ihm den Gefallen erweisen wollte.«
    »Wenn Ludovico bei der Messe versagt, werden die beiden es nicht ausbaden müssen. Geht es schief, werden sie sich vor ihren hochgeborenen Gästen mit unserer Unfähigkeit als Chorleiter herausreden und uns für ihre Blamage hart bestrafen.«
    Giulias Vater lachte nervös auf. »Ich wage es erst gar nicht, an diesen Fall zu denken, sondern klammere mich fest an die Hoffnung, durch die neue Messe wieder in der Gunst des Grafen zu steigen. Bei Gott, wir werden halb Umbrien und etliche hohe Herren aus Rom als Zuhörer haben. Da darf nichts schief gehen.«
    »Ihr habt wirklich hart für den Erfolg gearbeitet, Meister Girolamo. Der Chor ist ein wahrer Ohrenschmaus. Jetzt hängt alles von Ludovicos Solopartie ab. Wenn er keine auffälligen Fehler macht, wird der Graf mit uns zufrieden sein. Natürlich werde ich ihm und dem Abt gegenüber herausstreichen, mit welcher Inbrunst und mit welchem Eifer Ihr Euch für die diesjährige Messe eingesetzt habt.«
    Nun war es an Fassi, tief zu seufzen. »Es wäre schön, wenn sich der Graf meiner erinnern würde. Es ist kein gutes Leben derzeit. Der Sohn, in den ich so viel Hoffnung setzte, ist gestorben, meine Frau krank und zänkisch geworden, und meine Tochter Giulia …«
    Er brach ab, weil er eigentlich nicht wusste, was er seiner Tochter vorzuwerfen hatte. Sie war zwar zu einem guten Teil für die Spannungen zwischen ihm und seiner Frau verantwortlich, doch dies durfte er nicht ihr alleine anlasten.
    Während er ein paar Augenblicke lang stumm neben Pater Lorenzo herschritt, beneidete er die Mönche des Klosters. Sie lebten mit sich und der Welt in Frieden, hatten ihre Aufgaben, mit der sie sich Verdienste im Jenseits erwarben, und für Essen und Trinken war reichlich gesorgt. Auf einmal geriet er in Versuchung, sein bisheriges Leben einfach hinzuwerfen und den Pater zu bitten, ihn beim Eintritt in das Kloster behilflich zu sein. Dann rief er sich zur Ordnung. Er durfte weder Maria noch Giulia im Stich lassen, auch wenn er die Last seiner Verantwortung wie einen Mühlstein um den Hals empfand.
    Bei diesem Gedanken stöhnte er auf. »Wir sind armselige Kreaturen, die mit unzerreißbaren Banden an ihr Schicksal gekettet sind.«
    Pater Lorenzo sah ihn für einen Moment irritiert an, nickte dann aber zustimmend. »Ja, so ist es, Meister Girolamo. Gott in seiner großen Güte hat jedem von uns sein Schicksal zugewiesen. Einige wenige wie der Papst oder unser Graf erhalten bereits in diesem Leben

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