Die Kastratin
machen können.
Von dem Wunsch beseelt, ihm einen Gefallen zu tun, ging sie nicht sofort zu ihrer Mutter, sondern schlüpfte in die kleine Kammer, die ihr Vater als Arbeitszimmer nutzte. Hier stand nicht nur sein Pult, an dem er komponierte, sondern auch die Viola da Braccio, auf die er sehr stolz war. Giulia hatte ihren Vater schon mehrmals gebeten, sie auch das Spiel auf diesem Instrument zu lehren, da sie die Laute und die Querflöte bereits beherrschte. Bisher hatte er sich mit dem Hinweis geweigert, dass dieses Instrument nicht in die Hände einer Frau gehöre. Giulia hoffte jedoch, ihn irgendwann umstimmen zu können. Vielleicht war er heute bereit, wenn sie ihm die Verbesserungen zu seiner Melodie vorsingen konnte.
Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie sah auf das leere Blatt, das auf dem Schreibpult lag, die angespitzte Schreibfeder und das verschlossene Tintenfass und fühlte sich geradezu magnetisch davon angezogen. Ihr Vater hatte ihr zwar beigebracht, wie man Noten las, sie jedoch niemals selbst welche aufschreiben lassen. Aber sie hatte ihm oft genug dabei zugesehen und glaubte, sie gut genug zu beherrschen, um die kleine Melodie zu skizzieren. Sie sang dabei einzelne Passagen mit, um die genaue Tonhöhe zu treffen, und war damit fast fertig, als ihre Mutter mit verzerrtem Gesicht die Tür aufriss und sie anschrie:
»Du ungehorsames, faules Stück! Du drückst dich vor der Arbeit, die ich dir aufgetragen habe, und schmierst überdies noch Vaters kostbares Papier voll!«
Giulia schüttelte empört den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Ich wollte nur schnell ein paar Verbesserungen an Vaters neuer Komposition notieren, die mir eingefallen sind.«
»Jetzt willst du nicht nur so singen, wie er als Chorknabe früher gesungen hat, sondern auch noch das Komponieren für ihn übernehmen! Bei Gottes Blut, du bist verderbt bis ins Mark.« Mit diesen Worten entriss die Mutter ihr das Notenblatt und schlug es ihr heftig um die Ohren. »Da hast du dein Komponieren«, schrie sie wie von Sinnen. »Und jetzt Marsch an die Arbeit. Der Hühnerstall muss ausgemistet werden.«
»Aber das macht doch immer Beppo.« Giulia verzweifelter Ausruf konnte die Mutter jedoch nicht erweichen. »Heute machst du es«, erklärte sie kalt und schlurfte mit müden Schritten hi-naus, so als hätte sie mit diesem Ausbruch ihre letzten Kräfte verbraucht.
Giulia sah ihrer Mutter nach und stampfte mit dem Fuß auf. Ihr ging es nicht um die Arbeit, die ihr eben aufgehalst worden war, sondern vor allem darum, dass ihr die Mutter nicht einmal mehr die geringste Freude gönnte. »Es wäre besser gewesen, ich wäre an Pierinos Stelle gestorben.« Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie sich bemühte, das zerknüllte Notenblatt so weit zu glätten, dass ihr Vater es lesen konnte, und die Feder zu reinigen. Zu lange durfte sie sich nicht aufhalten, wenn sie mit dem Hühnerstall fertig werden wollte.
Sie holte Mistkratzer, Schaufel und Tragkorb und zwängte sich durch den schmalen Gang, der das Haus ihres Vaters von dem der Nachbarn trennte. Der Hühnerstall war klein und so niedrig, dass sie nur gebückt hineinschlüpfen konnte. Aus diesem Grund reinigte Beppo ihn auch nicht sehr häufig. Die fünf Hühner, die sie besaßen, flatterten wild mit den Flügeln und gackerten, als wolle sie ihnen an den Kragen. Zwei schlüpften sogar durch ihre Beine ins Freie. Giulia packte die Ausreißerinnen im letzten Augenblick an den Krallen und stopfte sie in den Stall zurück.
Sie hasste diese Arbeit, denn der Staub, der von dem getrockneten Hühnerkot aufstieg, kratzte in der Nase und setzte sich in die Kehle. Sie hustete sich beinahe die Lunge aus dem Leib und musste immer wieder heftig niesen. Damit erschreckte sie die Hühner, die aufgescheucht herumflatterten und damit noch mehr Staub aufwirbelten. Zuletzt band sich Giulia ihr Brusttuch vors Gesicht, um überhaupt noch Luft zu bekommen.
Sie schob die Hühner mit dem Kratzer beiseite und begann, den Mist in den Korb zu scharren. Der Korb war schließlich so schwer, dass sie ihn kaum aus dem Hühnerstall ziehen konnte. Schnell schloss sie die Stalltür und musterte zweifelnd die Last, die sie nun zu Beppo in den Garten bringen musste. Sie überlegte, mindestens die Hälfte auszuschütten und später hinabzutragen, doch dann würde der Staub bis ins Haus ziehen, und ihre Mutter hätte einen neuen Anlass, sie zu bestrafen.
Keuchend hob sie den Korb auf den Hackstock, schlüpfte in die
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