Die Kastratin
ein Opfer des Banditen zu werden. Die kleine Schar deutscher Fußpilger in ihren schweißfleckigen grauen Mänteln übte jedoch keinen Reiz auf den Räuber aus, zumal die päpstlichen Wachen auf den Straßen patrouillierten und den Reisenden ein Gefühl von Sicherheit vermittelten. Vincenzo wusste zwar nur allzu gut, dass Tomasi den Berittenen jederzeit eine Nase drehen konnte, doch die Deutschen atmeten beim Anblick der Soldaten mit dem päpstlichen Wappen auf und priesen die Heiligen, weil sie allen Gefahren und Schrecknissen der langen Reise nun glücklich entronnen waren. Psalmen singend zogen sie in Rom ein.
Vincenzo brachte sie zum Sammelpunkt der deutschen Pilger und übergab sie dort einigen Mönchen, die sich um sie kümmern konnten. Er selbst hatte genug von ihrer Gesellschaft und verließ sie nach kurzem Abschied und dem nicht ernst gemeinten Versprechen, bald zurückzukommen. Er wollte Meister Galilei aufsuchen, in der Hoffnung, bei ihm wohnen zu können. Zu seinem Pech jedoch hatte der Musiklehrer mit seiner Familie Rom vor mehreren Wochen verlassen, um in Piacenza zu lehren.
Es blieb Vincenzo daher nichts anderes übrig, als sich eine billige Herberge zu suchen. Als er schließlich auf einem wanzenverseuchten Strohsack lag, sehnte er sich fast in die übervollen und von den Ausdünstungen unzähliger Menschen erfüllten Schlafsäle der Pilgerhospize zurück.
Am nächsten Morgen beglich er seine Zeche und schlenderte auf der Suche nach Informationen über Casamonte kreuz und quer durch die heilige Stadt. Zuerst wollte er in der Kirche Santa Maria Maggiore, in der Giulio bei seinem ersten Romaufenthalt gesungen hatte, Erkundigungen einziehen. Er traf jedoch nur einen Diener an, der den Fußboden des Probenraums säuberte und über die Störung sichtlich verärgert war. Vincenzo opferte schweren Herzens eine Münze, um überhaupt eine Antwort zu erhalten. »Giulio wer? Kenne ich nicht«, brummte der Knecht nach mehreren Augenblicken des Nachdenkens.
Vincenzo zitterte vor Ungeduld. »Er hat im letzten Sommer hier gesungen und war bei der Uraufführung der Missa Papae Marcelli dabei.«
Der Knecht zuckte bedauernd mit den Schultern. »Im letzten Sommer war ich noch nicht da. Da habe ich noch in Trevi auf dem Zehnthof des Klosters gearbeitet.«
»Aber es muss doch jemand geben, der sich an den Kastraten erinnern kann.«
»Ach so, den Kastrat meint Ihr. Ich hab von ihm gehört, als ich hier angefangen habe. Er soll die Stimme eines Engels besitzen.«
Vincenzo nickte erleichtert. »Ja, er hat die Stimme eines Engels. Bitte sag mir, was du über ihn weißt.«
»Nur dass er zu den Tedesci gereist ist. Ich glaube auch nicht, dass die ehrbaren Mönche des Chores mehr wissen. Da müsst Ihr schon den Heiligen Vater selbst fragen.«
Die Bemerkung sollte wohl ein Witz sein, brachte Vincenzo jedoch auf eine Idee. Hastig verabschiedete er sich von dem Knecht, der brummend seine Arbeit wieder aufnahm, und eilte zu den päpstlichen Behörden im Lateranviertel. Die Auskunft, die er dort erhielt, stellte ihn jedoch auch nicht zufrieden. Ein sichtlich gelangweilter Schreiber, den zum Sprechen zu bewegen ein großes Loch in Vincenzos Börse riss, erklärte ihm umständlich, dass Casamonte zwar noch immer in den Diensten Seiner Heiligkeit stünde, derzeit aber durch das Land ziehen würde, um mit seiner Stimme das Lob des Herrn zu verbreiten.
Vincenzo verließ das Gebäude in einem Zustand innerlicher Auflösung und streifte zunächst ziellos durch die Gassen. In einer Schenke bestellte er sich schließlich einen Krug billigen Weines. Er brachte das säuerliche Getränk kaum über die Lippen, doch der Durst und sein Wunsch, im Wein Vergessen zu finden, waren stärker als seine Abneigung. Er wollte bereits nach dem zweiten Krug rufen, als er sich plötzlich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug.
Ihm war eingefallen, dass Giulios Vater hier in Rom lebte. Von diesem würde er sicher Auskunft über den Kastraten erhalten. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war nicht besonders gut gewesen, der reichlich genossene Wein ließ diese Tatsache jedoch als nebensächlich erscheinen. Selbst wenn Girolamo Casamonte nichts von Giulio gehört hatte, würde er ihm gewiss genug Geld leihen, um anständig versorgt auf den Kastraten warten zu können. Irgendwann musste der Heilige Vater ihn ja zurückbeordern.
Vincenzo versuchte sich an das Kurtisanenhaus zu erinnern, in dem Girolamo Casamonte Unterschlupf gefunden hatte. Es
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