Die Kastratin
Gesicht und überhäufte sich selbst mit Vorwürfen. Wie sehr musste er seinen Freund verletzt haben, damit dieser den reichen Lohn und die Ehre ausschlug, hier in San Lassaro zu singen?
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich ab und streifte ziellos durch die Stadt. Eine Schar deutscher Pilger, auf die er durch Zufall traf, brachte ihn auf eine Idee. Giulio stand in den Diensten des Papstes und würde über kurz oder lang nach Rom zurückkehren müssen. Vincenzo beschloss, dort auf ihn zu warten. Kurz entschlossen trat er auf die Pilger zu und begrüßte sie in ihrer Sprache.
Der Pilgervater, ein hagerer Ordensmann mittleren Alters, hatte bereits verzweifelt versucht, sich mit seinem Latein bei dem Wirt der Herberge, in der sie unterkommen wollten, verständlich zu machen. Als er vertraute Worte hörte, atmete er sichtlich auf. »Gott zum Gruß, werter Freund. Ihr kommt wie gerufen. Ich weiß nicht, wie ich diesem guten Mann hier beibringen kann, uns Unterkunft und Verpflegung zu geben.«
»Wenn Ihr Geld habt, ist dies kein Problem. Wenn nicht, müsstet Ihr zum Pilgerhof der Deutschen weitergehen, der neben der Kirche San Carlo liegt.«
»Ich dachte, das hier wäre der Pilgerhof. Kurz vor der Stadt habe ich einen Mann danach gefragt, und er hat uns hierher geschickt.«
»Entweder hat er Euch nicht verstanden, oder er wird vom Wirt bezahlt, Reisende zu ihm zu schicken.« Vincenzo klopfte dem Ordensmann lachend auf die Schulter und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Er führte die Deutschen zur Pilgerherberge, wo sie für ein paar Münzen Essen und Unterkunft erhielten. Da einer der dortigen Mönche der deutschen Sprache mächtig war, wurde Vincenzo nun nicht mehr gebraucht. Zu seiner Belustigung behandelten ihn die Leute in der Herberge jedoch wie einen der Deutschen. Sie drückten ihm einen Napf mit Gemüse und ein Fladenbrot in die Hand und zeigten ihm eine Stelle im Schlafsaal, wo er übernachten konnte.
Da er nichts anderes vorhatte, blieb Vincenzo bei den deutschen Pilgern, die, wie er erfuhr, aus der Gegend um Würzburg stammten. Die meisten von ihnen waren Mönche und Priester, die wenigstens einmal im Leben den Petersdom sehen und dort an der Heiligen Messe teilnehmen wollten. Die anderen waren Bürger mittleren Alters, die sich den Mönchen angeschlossen hatten und sich von der Romfahrt die ewige Seligkeit erhofften oder irgendwelche Sünden abgelten wollten. Es befanden sich auch einige adlige Nonnen bei der Gruppe, die sich jedoch meist etwas abseits hielten.
Vincenzo empfand die Leute als schwatzhaft und so neugierig, dass sie ihm lästig zu werden begannen. Er beschloss, sich am Morgen von ihnen zu trennen, doch die Gruppe erwies sich als recht anhänglich. Beim Frühstück, das aus einer dünnen Mehlsuppe bestand, bat ihn der Pilgervater, sie bis Rom zu begleiten und unterwegs für sie zu übersetzen. Da sich auch andere aus der Gruppe dieser Bitte anschlossen, stimmte Vincenzo nach kurzem Zögern zu. Es war angenehmer, in Gesellschaft zu reisen, und auf diese Weise würde er sich nicht um Verpflegung und Unterkunft kümmern müssen, was seiner schmalen Börse gut tat.
Jetzt ärgerte er sich doch ein wenig, dass er seine Geldkatze mit den großen Münzen nicht aus dem Koffer geholt hatte, als er Giulio Casamonte verließ, und überlegte, ob er nicht zu einem Bankhaus gehen und sich Geld von Giulios Bankier besorgen sollte. Giulio hatte ihm das Recht zugesprochen, jederzeit auf seine Gelder zugreifen zu können, und so hatte er all die Jahre darauf verzichtet, eine größere Summe beiseite zu legen und auf seinen Namen anzulegen. Doch in seiner jetzigen Situation wäre ihm ein Zugriff auf Giulios Vermögen wie Diebstahl vorgekommen.
Während der Reise überlegte Vincenzo, ob seine Begegnung mit der Pilgergruppe nicht ein Zeichen Gottes wäre, der Welt zu entsagen und in den Dienst der Kirche zu treten. Vielleicht würde er Giulio Casamonte im Gebet vergessen. Er nahm daher an den Bußübungen der Deutschen teil, beugte seine Knie vor unzähligen Heiligenfiguren und fastete, um die selige Entrü-ckung zu erlangen, die ihn von allen fleischlichen Gedanken reinigen sollte. Giulios Bild ließ sich jedoch auch damit nicht vertreiben. Als sie sich schließlich Rom näherten, fieberte Vincenzo in der Hoffnung, bald etwas von dem Kastraten zu hören.
Da er den Pilgern von den Untaten des Räubers Alessandro Tomasi erzählt hatte, standen seine Begleiter tausend Ängste aus, kurz vor dem Ziel
Weitere Kostenlose Bücher