Die Kastratin
besaß eine Stimme, wie man sie unter Tausenden von Menschen nur einmal fand. Jetzt erst begriff Paolo, dass er einen Kastraten vor sich hatte. Flüchtig bemitleidete er den hübschen jungen Burschen, wusste jetzt aber, wie er den Unmut seiner Tante Coelia besänftigen konnte.
IV .
G iulia war so in ihren Gesang vertieft, dass sie beinahe das letzte Amen Don Giantolos überhörte. Erst als ihr Vater sie an der Schulter fasste und ihr zuraunte, sich zusammenzunehmen, wurde sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst. Sie sah die bewundernden Blicke der Chorsänger auf sich gerichtet und fühlte die Begeisterung der Menschen in der Kirche mehr, als sie sie hörte.
In dem Moment wurde ihr klar, dass der Kastratensänger Giulio Casamonte gerade den ersten Schritt in ein neues Leben getan hatte. Nun würde nichts mehr so sein, wie es früher war. Aus Giulia war endgültig Giulio geworden. Obwohl sie stolz auf ihre Leistung war, schmerzte dieser Gedanke. Sie drehte sich Hilfe suchend zu ihrem Vater um, doch der trat eben mit stolzgeschwellter Brust auf Don Giantolo zu, um dessen überschwängliches Lob entgegenzunehmen.
Mit einem Mal fühlte Giulia den Wunsch, allein zu sein. Halb blind vor Tränen schritt sie auf das Portal zu, ohne auf die Frauen zu achten, die ihr beinahe ehrfurchtsvoll Platz machten. Ein Mann mittleren Alters, der sich ohne Rücksicht durch die Menge nach vorne drängte, rannte sie beinahe um. Um nicht zu stürzen, hielt Giulia sich an seinem flatternden Ärmel fest. Doch anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, spie der Mann aus und stieß sie so heftig von sich, dass sie gegen eine Säule prallte. »Fass mich nicht an, du ekelhafte Missgeburt!«
Der rüde Ausbruch schockiere Giulia so, dass sie am liebsten vor Scham in den Boden gesunken wäre. Sie hatte schon gehört, dass viele Leute Kastraten verachteten und sie für besonders widerliche und unnatürliche Geschöpfe hielten. Doch sie selbst war noch nie wegen ihrer angeblichen Unvollkommenheit schlecht behandelt worden. Mit einem Mal hatte sie Angst, alleine auf die Straße zu treten, und sah sich zum zweiten Mal nach ihrem Vater um.
Sie fand ihn im Gespräch mit einem jungen, gut gekleideten Mann, der sich zwischen den einfachen Leuten ausnahm wie ein Goldfasan unter Rebhühnern.
Fassi-Casamonte, der sich ebenfalls suchend umsah, winkte Giulia herrisch an seine Seite. »Darf ich dir den Edelmann Paolo Gonzaga vorstellen, einen Vetter Herzog Guglielmos? Herr Paolo würde sich freuen, wenn du seiner Einladung folgen und heute Abend im Haus seines Vaters, des ehrenwerten Batista Gonzaga, singen würdest.«
Paolo begrüßte Giulia mit gedrechselter Höflichkeit und deutete sogar eine Verbeugung an. »Es soll eine Überraschung für meine Tante Coelia werden, Signore Casamonte. Sie liebt die Musik heiß und innig und zeigt eine Vorliebe für schöne Stimmen. Sie wäre gewiss überglücklich, Eurem Vortrag in privatem Kreis lauschen zu dürfen.«
Er lächelte ihr dabei so warm und freundlich zu, dass sie ihren Schreck über den vorangegangenen Zwischenfall wie ein schmutziges Hemd abstreifte. Der Blick des jungen Mannes schien sie regelrecht zu streicheln und löste ein seltsam prickelndes Gefühl in ihr aus. Es war nicht unangenehm, verwirrte sie jedoch und brachte sie in Verlegenheit. Sie fragte sich, ob es das war, was Frauen an Männern anzog, wusste jedoch keine Antwort darauf.
Ihr Vater hatte nichts von dem Aufruhr ihrer Gefühle bemerkt. Er dienerte vor dem jungen Adligen, pries ›Giulios‹ Fähigkeiten in höchsten Tönen und versicherte seinem Gegenüber, dass er seine Einladung nicht bereuen würde. Wie ihm war auch Giulia klar, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können, als bereits bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt die Aufmerksamkeit eines Mitglieds der herrschenden Familie auf sich zu lenken. So blieb ihr trotz eines unguten Gefühls nichts anderes übrig, als die Zusage ihres Vaters zu bestätigen.
Sie verbeugte sich zierlich, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. »Ich fühle mich geehrt, Euer Gnaden.«
Paolo nickte erfreut und unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. In seinen Gedanken formten sich ein paar Ideen, die diesen halben Mann betrafen. Giulio Casamonte würde ihm gewiss nicht nur an diesem Abend nützlich sein.
Er verabschiedete sich höflicher, als es bei diesen Plebejern notwendig war, und wandte seine Aufmerksamkeit dem Portal zu. Da die ersten Gläubigen das Kirchenschiff bereits verließen,
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