Die Katastrophe
was ich weiß. Nur ihr wollt einfach alles vergessen.«
Chris setzte sich nun ebenfalls auf. »Könnte sein, dass Robert recht hat. Drei Monate Ruhe müssen gar nichts bedeuten.«
»Ach ja? Und was kommt als Nächstes?«, grinste Benjamin. »So was wie das Ungeheuer von Loch Ness vielleicht? Oder ein Schneemensch, ein Yeti wie im Himalaja. Ich hätte nichts dagegen. Würde mir jede Menge Clicks bei YouTube einbringen.«
Wieder lachten die anderen.
»Aber denkt ihr nicht auch manchmal an die acht Studenten, die spurlos verschwunden sind?«, warf Julia ein. »Und den Gedenkstein, den wir drüben beim Bootshaus gefunden haben?«
»Vielleicht haben Außerirdische sie entführt«, kicherte Debbie. Robert stellte die Flasche auf die Decke und sah Katie hinter seinen runden Brillengläsern ruhig an. »Fragt Katie.«
Nun starrten alle sie an.
Katie zuckte zusammen. Verdammt, woher wusste Robert von ihrem Plan? Oder war das nur eine Vermutung, eine Art Schuss ins Blaue, nach dem Motto: Mal sehen, ob ich einen Treffer gelandet habe? Doch dann riss sie sich zusammen. Vermutlich hatte er einfach mit Julia darüber gesprochen.
Aber was bezweckte er mit seiner Anspielung? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er von ihrem Plan allzu begeistert war. Andererseits – lieferte er ihr nicht die perfekte Vorlage, den anderen von ihrem Vorhaben zu berichten?
Obwohl die Sonne bereits lange Schatten als Vorboten der Dämmerung auf die türkisfarbene Fläche malte, war der Himmel noch immer blau und die Sicht klar auf die Berge, die sich hinter dem Ghost unendlich weit fortzusetzen schienen, nur unterbrochen durch die Schneefelder des Gletschers. Es war ein Tag, der nichts verbarg.
Im nächsten Moment stand Katie bereits und begann zu sprechen. Alle starrten sie verblüfft an und sie wusste, was sie dachten. Was ist mit Miss Untouchable los? Die kriegt doch sonst nie ihren Mund auf.
Aber sie würden es gleich erfahren.
»Was haltet ihr davon?« Sie blickte fragend in die kleine Runde. »Wollen wir das Tal auf die Probe stellen? Wollen wir das Rätsel um die Studenten lösen? Wer kommt am Wochenende mit mir auf den Ghost?«
6
S uper Idee!«
»Ja, auf geht’s!«
»Wir fordern das Tal heraus!«
»He – Ghost! Wir kommen!«
Julia konnte nicht glauben, was sie da hörte. Die Begeisterung nicht verstehen. Aber bis auf Robert schien jeder sich von Katies Idee anstecken zu lassen und das war nun wirklich seltsam. Sogar Debbie sah aus, als ob sie tatsächlich daran glaubte, sie könne es schaffen, auf einen über dreitausend Meter hohen Berg zu steigen. Doch für Julia war es nicht nur ein Dreitausender. Dieser Berg hatte eine weitaus tiefere Bedeutung für sie.
Eine Wolke, die wie aus dem Nichts aufzutauchen schien, schob sich vor die Sonne und genauso drängte sich der Name aus den Tiefen von Julias Gedächtnis an die Oberfläche:
Mark de Vincenz.
Dieser Name war der letzte auf dem Gedenkstein.
Sie hatte nicht herausgefunden, wie ausgerechnet der Name ihres Vaters auf den Stein kam – ja, sie wusste nicht einmal, ob es nicht doch purer Zufall war – eine willkürliche Namensgleichheit. Aber trotzdem – sie brachte immer wieder Blumen dorthin und benutzte diesen Ort als Friedhof, den Stein als Grabmal. Denn ihr Vater war unwiderruflich tot. Einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Das war Fakt! Fakt! Fakt!
Oder?
Sie schloss die Augen.
Warum musste Katie mit dieser Idee, auf den Ghost zu gehen, alles an die Oberfläche zerren? Warum noch einmal die alten Wunden aufreißen?
Am liebsten wäre Julia aufgesprungen und davongerannt.
»Wann?«, hörte sie Chris’ Stimme.
Hör auf zu fragen, dachte Julia.
»Dieses Wochenende«, erwiderte Katie. »Die Wettervorhersagen sind günstig. Und es ist der perfekte Zeitpunkt. Der Besuch der Gouverneurin wird so viel Wirbel machen, dass keiner bemerkt, wenn wir hier verschwinden.«
Wie lange Schatten, die Wolken auf das Wasser warfen. Nur die Wellen, die leise ans Ufer schwappten, verzerrten ihre klaren Konturen.
»Was genau hast du vor?«, hörte sie nun David fragen.
»Ich möchte nach Hinweisen suchen, ob die Studenten damals wirklich dort oben waren«, erklärte Katie.
Sie lügt, dachte Julia. Es geht ihr um etwas anderes. Die verschollenen Studenten sind ihr scheißegal. Warum sollte Katie, die kaum Interesse an den Lebenden hatte, sich für Tote interessieren?
Julia hatte die Leiche ihres Vaters nicht gesehen und hatte sich schon oft gefragt, woher sie eigentlich das
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