Die Katastrophe
Vertrauen nahm, er sei tatsächlich tot. Die Polizei hatte es ihr erzählt. Aber was, wenn er es nicht war, wenn er wie sie untergetaucht war? Sie stellte sich vor, wie er irgendwo – vielleicht in Florida – mit einer neuen Familie lebte. Warum ausgerechnet Florida? Julia hatte keine Ahnung. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er wie sie mit einer gestohlenen Identität gelebt hatte. Er war vielleicht ebenso wenig Mark de Vincenz gewesen, wie sie Julia Frost hieß. Und der echte, wahre, einzige Mark de Vincenz lag dort oben auf dem Gipfel des Ghost.
Rose fragte etwas, aber Julia schaltete die Geräusche um sich herum einfach aus. Das Licht der tief stehenden Sonne blendete sie selbst durch die geschlossenen Augenlider. Eine Helligkeit, als spiegele sich die Sonne im Schnee. Sie sah sich durch die endlose Weite stapfen – völlig allein. Ein scharfer Wind blies ihr eine eisige Kälte durch die Glieder. Nicht stehen bleiben.
Dich nicht umdrehen.
Wenn sie nicht weiterging, wenn sie dem Ruf nicht gehorchte, würde sie mitten in der Bewegung eingefrieren.
Doch sie musste den schwarzen Schatten erreichen, der sie dort vorne erwartete und der sich immer weiter entfernte, je näher sie kam.
Mark de Vincenz?
Woher nahm sie die Überzeugung, dass er es war?
Sie wusste es nicht, sie wusste es einfach nicht.
Sie hatte nur eine einzige Möglichkeit herauszufinden, ob es sich dabei um einen Fremden handelte oder ob ihr Vater dieser schwarze Schatten war.
Sie musste ihm folgen, ihre Hand auf seine Schulter legen, bis er sich umwandte und sie sein Gesicht sehen konnte.
Ihr wurde schwindelig bei dieser Vorstellung, Übelkeit stieg in ihr hoch. Kein Wunder – alles in ihr sträubte sich dagegen, dennoch ging sie immer weiter. Ihr schien, als ob der Schatten ihr sogar zuwinkte.
Für den Bruchteil einer Sekunde mischte sich ihr Verstand ein und sagte ihr, dass sie das alles nur träumte, aber sie wollte weiterträumen, genauso, wie sie weitergehen wollte.
Und es kostete ihre ganze Kraft, einen Fuß nach dem anderen auf die weiße Fläche zu setzen, sie hätte vermutlich auch aufgegeben, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, sich der Gestalt dort vorne zu nähern, sie tatsächlich bald erreicht zu haben. Sie musste nur durchhalten.
Stimmen drangen an ihr Ohr.
Roberts Stimme, die sie aus der Realität erreichte. »Julia?« Und wieder. »Julia?«
Es wäre die Gelegenheit gewesen, aus diesem seltsamen Traum aufzuwachen, aber Julia konnte es nicht. Gerade deshalb nicht, weil ihr Herz wie verrückt schlug.
Noch nicht – wollte sie erwidern, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Stattdessen dachte sie panisch: Gleich! Gleich habe ich Gewissheit.
Sie rannte los. Auf die weiße Fläche zu, an deren Ende der Schatten auf sie wartete. Es waren nur wenige Meter. Die Übelkeit war nun so stark, dass sie kaum gehen konnte. Und dann fiel sie auf die Knie.
Der Wind blies eine schwarze Wolke über den Himmel. Der Schatten löste sich auf. Die weiße Fläche wurde zu dem dunkelblauen Himmel über dem Lake Mirror, an dessen Ufer Julia sich kniend fand und sich in das tiefgrüne Wasser übergab.
»Ach du Scheiße«, hörte sie eine Stimme neben sich.
Jemand drückte ihr ein Kleenextuch in die Hand.
Ein schriller Aufschrei, gefolgt von: »Igitt, irgendetwas von den Sachen, die wir gekauft haben, muss schlecht gewesen sein. Was hat sie gegessen? Oh Gott, Chris, was hat sie gegessen?«
»Shrimps«, murmelte Julia. »Es waren nur die Shrimps.«
Eine Art Quieken folgte. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Ich auch! Ich habe mindestens zehn Stück von den Dingern gegessen. Ich glaube, mir wird auch schlecht.«
»Verdammt, halt endlich deine verfluchte Klappe, Debbie!«
War es Chris, der das sagte, oder David?
7
G eht’s wieder?«
Ungeduldig beobachtete Katie, wie Rose aufsprang, zum See hinunterlief und mit einer Flasche Wasser zurückkehrte. Dass Julia ausgerechnet jetzt diesen Anfall von Übelkeit bekommen musste. Aber so schnell gab Katie nicht auf. Schließlich gehörte Hartnäckigkeit zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften.
Sie bemühte sich, möglichst locker zu klingen, als sie nun fragte: »Also, was meint ihr? Machen wir die Tour auf den Ghost?«
Die anderen starrten sie an.
»Du meinst das also wirklich ernst?«, fragte Debbie.
»Im Gegensatz zu dir meine ich alles ernst, was ich von mir gebe.«
»Warum willst du dieses Risiko eingehen?«, fragte David ruhig.
»Ihr ist langweilig«, murmelte Chris.
Katie
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