Die Katastrophe
was du willst«, brüllte sie ihn an. »Aber ich gehe weiter. Wir haben sowieso schon zu viel Zeit verloren. Ich will heute noch zu dieser Hütte.«
»Ich hätte nie gedacht, dass du so egoistisch bist.« Im schwachen Licht ihrer Stirnlampe sah sie, wie David sich umdrehte und verständnislos den Kopf schüttelte.
»Das ist nicht egoistisch! Ich will nur raus!«
Sie hätte diesen Tunnel nie betreten sollen.
Sie hätte nicht auf Ana hören sollen.
Sie hätte auf die anderen verzichten sollen.
Sie hätte auf Pauls Angebot eingehen sollen.
Hätte, hätte, hätte. Doch jetzt war es für all das zu spät.
Katie zögerte nun nicht länger. Sie schob sich an den anderen vorbei und tastete sich Schritt für Schritt weiter nach vorne.
Julia rief ihr hinterher. »Warte, Katie! Wir sollten uns lieber nicht trennen. Ben ist doch gleich zurück.«
Aber sie blieb nicht stehen. Stattdessen hielt sie den Blick starr auf den schwachen Lichtkegel gerichtet, der bei jeder Bewegung herumschwenkte. An den Stollenwänden glitzerte Feuchtigkeit und die Holzbalken über ihr strömten einen fauligen Geruch aus. Sie waren alt. Uralt. Und vermutlich morsch von der Feuchtigkeit hier unten.
Gleichzeitig nahmen ihr die Staubflocken, die von den klammen modrigen Wänden rieselten, die Luft. Als löse sich das Gestein auf. Die Flocken hingen bereits überall. In ihren Haaren, auf ihren Kleidern, auf ihrer Haut. Das war so ekelhaft.
Katie kam erst wieder richtig zu sich, als sie schätzungsweise schon gut fünfhundert Meter weit gekommen war. Und in diesem Moment fiel ihr auf, was vielleicht noch schlimmer war, als in diesem Tunnel gefangen zu sein.
Allein in diesem Tunnel gefangen zu sein.
Sie war so eine Idiotin! Wie hatte sie es zulassen können, dass die Panik die Oberhand gewann und sie einfach davonlief?
Sie blieb stehen und horchte nach hinten.
Nichts.
Im Licht ihrer Stirnlampe sah sie kaum zehn Meter weit.
Konnte die Suche nach dieser verfluchten Kameraabdeckung so lange dauern?
»He, wo seid ihr?«
Keine Antwort.
Nur das allgegenwärtige dröhnende Rauschen.
Sie ging ein Stück des Wegs zurück und dann merkte sie, dass sie in einer Wasserlache stand. Hatte das Wasser hier vorhin auch schon so hoch gestanden? Eine Erinnerung stieg in ihr hoch. Etwas, das Julias Bruder Robert immer wieder erzählte. Er behauptete, dass das Wasser des Sees auf unerklärliche Weise anstieg und wieder fiel. War das jetzt der Fall? Brachte der unterirdische Fluss zusätzliches Wasser zum Lake Mirror?
He, Katie, dreh nicht durch. Hier gibt es nicht Ebbe und Flut. Abgesehen davon, dass Ana gesagt hatte, der Fluss würden weit hinter dem Tunnel verlaufen.
Katie zog die Stirnlampe ab und leuchtete die Umgebung ab.
»Wo seid ihr? Hallo?«, rief sie noch einmal.
Plötzlich rutschte sie auf dem nassen Boden aus. Das Wasser stand nun schon gut fünf Zentimeter hoch. Sie schaffte es gerade noch, sich an der Wand festzuhalten. Ein Stein löste sich, als sie sich abstützte. Ihr Herz schlug schneller. War der Tunnel überhaupt sicher? Wenn sie nicht bald auf die anderen traf, würde sie nie hier rauskommen. Sie würde verrückt werden. Die Panik übertraf sowieso schon alle messbaren Werte, was ihren Herzschlag und Puls betraf.
Inzwischen rannte Katie fast, obwohl das bei dem glitschigen Boden kaum möglich war. Der Rucksack scheuerte am Rücken und schien mit jedem Schritt schwerer zu werden.
Dass es sinnvoller wäre, einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis die anderen zu ihr stießen – diesen Gedanken schob Katie zur Seite. Die Angst beherrschte nun jeden Winkel ihres Gehirns und daher hastete sie weiter durch die Dunkelheit, bis sie plötzlich über etwas stolperte und auf die Knie stürzte. Die Stirnlampe, die sie in der Hand gehalten hatte, flog auf den Boden und mit ihrem Erlöschen herrschte schlagartig totale Dunkelheit.
Katies Atem ging hastig und stoßweise vor Angst, ihr Herz pochte gegen die Rippen, während sie mit der Hand über den Boden tastete und nach der Lampe suchte. Doch vergeblich. Sie ging in die Hocke, die Hände auf dem Boden. Ihr Körper drehte sich einmal um die eigene Achse. Nichts. Wo war dieses verdammte Ding? Sie stand auf und dann begriff sie. Sie hatte die Orientierung verloren. Nun wusste sie nicht mehr, wo links und rechts war. Woher war sie gekommen?
Katie hatte dieses Gefühl früher schon gehabt, aber nur gelegentlich, in Träumen. Und an jenem 23. Dezember vor zwei Jahren.
Es war dieser Wunsch,
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