Die Katastrophe
schwenkte nach rechts.
Ein weiterer Umriss, nur größer, breiter und daneben noch einer – und daneben eins, zwei, drei... fünf weitere Umrisse. Acht Strichmenschen in Lebensgröße.
Acht.
Acht Studenten, die verschwunden waren.
Zufall? Katie konnte das nicht glauben.
Waren die Studenten hier vorbeigekommen? Hatten sie denselben Weg eingeschlagen und hier haltgemacht, diese Höhlenmalereien entdeckt und sich für immer an diesen Felswänden verewigt, bevor sie verschwunden waren?
Instinktiv tastete sie sich zu der Tunnelöffnung zurück, die ihr den Hauch von Sicherheit verlieh.
Katie was here?
Katie was here?
Was hatte das zu bedeuten?
Katie?
Katie?
Hatte jemand sie gerufen oder hörte sie schon wieder Stimmen aus dem Felsen?
Nein, jemand rief tatsächlich ihren Namen.
»Katie?«
»Hier bin ich!«
Mein Gott, ihre Stimme hörte sich so verdammt leise an. So gar nicht nach ihr selbst.
»Hier!« Katie legte alle Kraft in diesen Schrei.
Wieder Stille. Katie hielt sie nicht lange aus. »He, wo seid ihr denn? Oder wollt ihr in dieser verfluchten Höhle übernachten?«
Und dann stand jemand vor ihr und leuchtete ihr direkt ins Gesicht. Geblendet rappelte sie sich auf und sagte möglichst cool: »Hier steht alles unter Wasser, verfluchte Scheiße. Ich hoffe nur, dass wir nicht alle ertrinken. Wo sind die anderen?«
»Sie kommen gleich nach. Ich bin nur vorausgegangen, weil ich dachte, dass es in dieser Finsternis mit der Zeit verdammt einsam werden kann.«
Paul hob die Stirnlampe und leuchtete ihr ins Gesicht. Sein Grinsen ging ihr langsam auf die Nerven. Wenn Katie etwas hasste, dann Menschen, die sich über sie lustig machten.
»Mach dir um mich mal keine Sorgen«, erwiderte sie bissig. »Nur um unsere Tour. Wir müssen weiter, wenn wir heute noch hoch zur Hütte wollen. Ich habe keine Lust, im Dunkeln zu laufen.«
Wobei du genau das schon die ganze Zeit tust, dachte sie grimmig. Du tappst so was von im Dunkeln.
Paul stellte den Rucksack ab und streckte sich. »Die anderen sind gleich hier, aber mein Angebot steht immer noch. Lass uns alleine weitergehen. Je mehr Leute, desto höher das Risiko.«
Katie starrte ihn an. »Was willst du eigentlich?«
»Dasselbe wie du. Auf den Berg. Spürst du es nicht? Wir sind Seelenverwandte.«
»Seelenverwandte?«
»Genau.«
»Wie kommst du auf die Idee?«
Eine Weile herrschte Stille und Katie erwartete schon keine Antwort mehr, als Paul dicht an sie herantrat. Sie hasste diese körperliche Nähe. Hatte sie nur bei Sebastien ertragen, ja sie geradezu herbeigesehnt.
»Wir sind schuldig«, flüsterte Paul. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
Ihr Herz stoppte für einige Sekunden, dann riss sie sich zusammen und legte all die Coolness in ihre Stimme, zu der sie fähig war – und Katie war eine Meisterin der Coolness.
»Dann hatte Debbie wohl recht damit, dass du nur auf Bewährung frei bist?«
»Ich bin vor einer Woche entlassen worden.« Kein Zögern, keine Entschuldigung in seiner Stimme.
»Warum?«
»Wegen guter Führung.« Paul lachte. »Oder interessiert es dich, warum die Bullen mich geschnappt haben und dann doch wieder freilassen mussten?«
Ja, es interessierte Katie brennend, aber sie beschloss, nicht nachzufragen. Er sollte sich nicht wichtig fühlen, nur weil er im Gefängnis gewesen war. Oder denken, dass er sie damit beeindrucken könnte. Stattdessen sagte sie: »Da ist dein Vater bestimmt stolz auf seinen Sohn.«
»Mein Vater ist ein Riesenarschloch.«
Okay, vielleicht waren sie doch irgendwie seelenverwandt. Auch Katies Vater war ein Riesenarschloch, aber im Gegensatz zu Paul hatte sie das noch nie ausgesprochen. Vielleicht war das der Fehler gewesen.
Und dann hörte sie die Stimmen der anderen und war unendlich erleichtert. Julia, David, Benjamin, Ana, Chris.
Vielleicht sind es keine Freunde, dachte sie. Aber im Moment sind es die einzigen Menschen auf der Welt, die ich habe. Die einzigen, denen ich so etwas Ähnliches wie Vertrauen entgegenbringe. Denn so schwer es ihr auch fiel, sie hatte sich ganz offensichtlich in eine Situation hineinmanövriert, in der es ohne Vertrauen nicht ging.
»Mann Katie«, erklang nun Julias Stimme, »ich habe schon gedacht, du wärst weg! Wir sollten von nun an wirklich zusammenbleiben. Erst Paul, dann Ana, jetzt du, ständig verschwindet einer, das halte ich nicht aus.«
Es war Chris, der sie unterbrach. Er hatte die Lampe gehoben und in seiner Stimme lag ein ungläubiges Staunen, als er nun
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