Die Katastrophe
die man nicht überqueren durfte.
Aber verdammt noch mal, sie hatte immer gespürt, dass Straßen und Flüsse zu einem Ziel führten, einen Weg beschrieben, der sie mit aller Macht lockte.
Damals, an diesem Tag in Korea, sie mochte drei oder vier Jahre alt gewesen sein, hatte sie erst lange vor dieser Mauer gestanden und sie angeschaut. Bis eine Katze aufgetaucht war, die keine Sekunde überlegte, sondern mühelos auf die Mauer sprang, auf dem Sims eine Zeit lang balancierte, bis sie auf der anderen Seite spurlos verschwand. Katie hatte die Katze nie wiedergesehen, aber sie hatte begriffen, dass Mauern immer bedeuteten, dass es eine andere Seite gab, die es zu entdecken galt.
Und sie konnte sich noch genau an den Gedanken erinnern, den sie in diesem Moment hatte. Nun, vielleicht war es kein richtiger Gedanke gewesen, eher ein Gefühl. Sie hatte einfach versucht, was diese Katze ihr vorgemacht hatte. Und – das wusste sie noch ganz genau: Sie war ziemlich weit gekommen, denn der Singsang im Garten hinter ihr war schlagartig abgebrochen. Hände hatten sie gepackt, hatten sie heruntergezogen, auf sie eingeredet und – es war das Ende ihres Abenteuers gewesen.
Sie hatte wie am Spieß gebrüllt. Bis heute wusste sie nicht, was hinter dieser verfluchten Mauer gelegen hatte. Aber eines war klar, sie hatte es schon als Dreijährige begriffen – Mauern sperrten einen ein.
Und das war nichts, was sie akzeptieren würde.
Sie richtete sich auf. Automatisch griff ihre Hand nach der Stirnlampe, um sie anzuknipsen, doch dann begriff sie, dass die Lampe bereits leuchtete. Nur lag zu viel Staub in der Luft, als dass sie hätte wirklich etwas erkennen können.
»Alles okay?« Seltsam, diese Stimme. Katie wusste sofort, wer sich über sie beugte. Paul.
»Der verdammte Stollen ist eingestürzt!«
Erst jetzt spürte Katie den Körper neben sich und erinnerte sich daran, dass sie David nach unten gerissen hatte.
»David?«
Ein Schatten neben ihr.
»Alles okay, David?«
Keine Antwort.
»Bist du verletzt?«
»Mir geht es gut. Aber Julia...«
Katie beruhigte sich, als Davids Stimme zunehmend klarer und kräftiger klang. Er erhob sich, seine erschrockene Miene ähnelte im Staubnebel mehr einer Grimasse als einem Gesicht.
Katie blickte nach vorn.
»Chris, Ana?«
»Hier.« Einer nach dem anderen schälte sich unverletzt aus der Dunkelheit. Ihre Gesichter waren schwarz vor Staub, Katie konnte nicht erkennen, was in ihnen vorging. Aber sie konnte es sich denken.
Chris’ Stimme war erstickt, als er sich auf David zuschob. »Du verdammter Idiot!« Er zischte mehr, als er sprach. »Wer von uns beiden hat nun dafür gesorgt, dass Julia etwas passiert?« Er holte keuchend Luft. »Jetzt hör mir mal genau zu. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann bist du es, den ich umbringe!«
Er machte Anstalten, sich auf David zu stürzen, aber Katie fiel ihm in den Arm. Das Letzte, was sie jetzt hier unten brauchten, waren zwei Jungs, die sich prügelten.
David sank in sich zusammen. »Wir müssen sie suchen«, flüsterte er verzweifelt. »Sofort. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Das kannst du vergessen.« Paul konnte sich nicht vollständig aufrichten, sein Kopf stieß bei jeder Bewegung an die Decke. »Da vorne geht es nicht weiter. Der Steinschlag hat den Tunnel vor uns fast komplett verschüttet. Wir haben hier hinten nur die Ausläufer zu spüren bekommen.«
David schob sich an ihm vorbei. »Wir müssen einen Weg frei schaufeln.«
»Womit? Mit deinen Händen?«
David antwortete nicht, sondern kroch an ihnen vorbei. Chris folgte ihm auf dem Fuß.
»Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Leben seiner großen Liebe auf dem Spiel steht«, hörte Katie Pauls flüsternde Stimme. »Und du weißt es auch. Was meinst du, Katie? Kann man das je überwinden?«
Er wusste es.
Paul Forster wusste, was Sebastien zugestoßen war und welche Rolle Katie dabei gespielt hatte. Und nein, sie würde das niemals überwinden können, aber sie konnte ihre Vergangenheit nicht verändern. Das Einzige, was sie tun konnte, war, David zu helfen.
Bis heute hatte sie nicht geahnt, dass David in Julia verliebt war. Aber das kam davon, wenn man versuchte, den Heiligen zu spielen und sich an die Regeln zu halten. Regeln waren Mauern, hinter denen sich Feiglinge verbarrikadierten.
Die Ironie des Schicksals war nur, dass er sich jetzt Seite an Seite mit seinem Erzrivalen durch die Steinhaufen zu der Stelle vorrobbte, wo die Felsbrocken den Weg bis zur
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